Bericht von K. J. aus Nukolaipol bei Aulieata, Turkestan, aus der „Friedensstimme“ Nr. 68 vom 1. September 1912, S. 8

 

Abgeschrieben von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

 

Nikolaipol, Turkestan, den 9 August.
Gegenwärtig ist bei uns Erntezeit. Anfangs August fingen die ersten an zu mähen, und jetzt werden wohl schon alle mitten in der Arbeit sein. Welch ein unaufhörliches Fahren und Schaffen! Von früh morgens bis spät abends gönnt man sich kaum ein Stündchen Ruhe.  Der Landmann wird sich freuen, wenn alles Getreide aufgetragen und das Wetter ihm die Zeit über günstig gewesen sein wird. Eine Freude, die wir ihm von Herzen gönnen wollen.
Dem Schullehrer aber ist bange vor dem Winter, besonders einem jungen, unerfahrenen. Es ist dieses nicht Arbeitscheu, (denn einesteils sehnt er sich auch nach den lieben Kindern) sondern das Bewußtsein seiner eigenen Schwachheit angesichts der großen Aufgabe, die ihm gestellt ist. Ich habe einen Winter mit 40 Kindern Schule gehalten. Dieses Jahr wird die Zahl der Schüler und der Abteilungen wohl größer sein, deshalb auch mehr Arbeit, die Zeit aber dieselbe. Oft, wenn ich im vorigen Winter unter den Kindern stand, gingen mir Unwürdigkeitsgefühle durch. Oft war ich mit allem ganz am Ende. Ganz entmutigt wird der Lehrer, wenn man zu diesem noch gewissenlos über ihn herfährt. Besonders eines der Uebel ist die Plauderei. Macht man in der Klasse einen Fehler, dann wird etwas Großes davon gemacht. Man sollte den Lehrer auch nicht in einem aufgeregten Zustande entgegenkommen, sondern ganz gelassen die vorliegende Sache besprechen. Daß einer meiner gewesenen Lehrer hin und wieder verdrießlich in die Klasse kam, glaube ich dem Umstand zuschreiben zu können, daß ihm in solchem Falle ofr Vorwürfe von den Nachbarn gemacht wurden. Sehr ermutigend  und erfrischend wirkt es auf den Lehrer, wenn er mehrmals von den Vätern der Kinder besucht wird. Er bekommt dann unwillkürlich den Eindruck, daß dem Besucher die Erziehung der Kinder Herzenssache ist, und daß er mit dem Lehrer mitfühlt. Die Erziehung der Kinder kann nur dann eine segensreiche sein, wenn Schule und Haus gemeinsam für die große Sache einstehen. Dieses kann nicht geschehen, wenn man den Lehrer als einen „gemieteten“ behandelt.
Als ich vorigen Herbst das erstemal vor die Schüler treten sollte, war mir wirklich bange. Da in dieser meiner bangen Morgenstunde kam einer einer der Väter von meinen Schülern zu mir. Er sagte, daß er mal einen jungen Lehrer habe klagen hören: „Wenn  wenigstens einer der Väter zu mir gekommen wäre und hätte mit mir gebetet, als ich mal anfing!“ „Jetzt“, sagte er, „wolle er das tun.“ Wir beteten zusammen in meiner Stube, dann gingen wir beide in die Klasse, sangen gemeinschaftlich ein Lied und beteten. Zuerst richtete ich einige Worte an die Schüler, dann sprach er. Er forderte die Schüler auf, weiterhin ihren neuen Lehrer zu lieben und ihm gehorsam zu sein, wie ihren vorigen. Er versprach ihnen auch, daß ihr neuer Lehrer sie lieben und lehren werde, wie der vorige u.a.m. Nach diesem entließ er uns, und ich nahm mit guten Hoffnungen meine Arbeit auf. Diesem freundlichen Nachbar sind die Angelegenheiten der Schule Herzenssache. Dank ihm für seine Freundlichkeit! Wenn alle solche Schulfreunde wären, würde die Schularbeit wirklich eine segensreiche sein!

K.J.

   
Zuletzt geändert am 24 März, 2018