Brief von Abr. und L. Harder aus Großweide in „Friedensstimme“ Nr. 34 von 14 September 1919

 

Abgeschrieben von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

 

Etwas über die 2 Abteilung des Großweider Waisenhauses.
Wiederholt sind wir aufgefordert worden, Mitteilungen zu machen von den Erfahrungen in der Arbeit der russischen Abteilung des Waisenhauses zu Großweide. Diese Abteilung befindet sich in Halbstadt auf der Poststraße Nr. 7.
In Halbstadt so fragt wohl amncher Leser. „Ja, warum denn grade in Halbstadt?,“ so sind wir wiederholt gefragt worden. Wir haben darauf nur eine Antwort: Der Herr führte uns so, und wir mußten folgen; obzwar es uns ging, wie einst dem Direktor Ziegler, als er dachte, daß 10 Paar Ochsen ihn nicht nach Wilhelmsdorf zwingen könnten. Und so glaubten auch wir nimmer mit einer Waisenabteilung nach Halbstadt zu ziehen. Aber bleibt es sich dem Allmächtigen nicht gleich, den Elias bei einer reichen Witwe zu erquicken oder ihn in der Wüste zu versorgen? Ja, es ist Jehova ganz gleich, durch viel oder wenig zu helfen.
Und da wir wissen, daß viele unserer teuren Freunden gerne etwas Näheres über die Entstehung dieser Abteilung und über unsere Erfahrungen hören möchten, so wollen wir zur Ehre des Herrn, seine Güte preisend, etwas erzählen. Das Waisenheim zu Großweide war gefüllt. Wir brauchten mehr Raum. Da wir aber in einer so schweren Zeit leben und es der Verhältnisse halber unmöglich war zu bauen, mußten wir uns schicken. Dazu kamen noch die Anmeldungen von russischen Kindern. Unser Herz war aber schon längere Zeit durch Gottes Geist aufmerksam gemacht auf die Not unter den russischen Waisenkindern. Besonders durch die Bitte um Aufnahme eines kleinen Mädchens von russischen Geschwistern, dem die Eltern gestorben waren. Damals war es uns jedoch noch nicht erlaubt.
Die Glauubensfreiheit gab uns das Recht, auch russische Kinder aufzunehmen, aber jetzt fehlte der Raum, und es paßte auch nicht, die Kinder gemeinsam in einem Hause zu erziehen. Wir beteten um Weg und Mittel, helfen zu können, worauf Er uns aber warten ließ. Doch die dringende Not, die Bilder der von den Menschen verlassenen Kinder, das Elend der russischen Waisen wich nicht von unserem Geistesauge. Wiederholt baten wir den Herrn auch um einen Platz, wo wir mit der Arbeit beginnen könnten. In unseren Gebeten leitete uns das Wort: „Ihr die ihr den Herrn erinnern solt, gönnt euch keine Ruhe“. Und der Herr hat erhört. Eines Tages fuhren wir zu Besuch nach Halbstadt, und kamen auch zu unsere Freunde N. Während der Unterhaltung seufzen sie über die Größe ihres Hauses und sprachen es aus, wie gerne sie das große auf  ein kleines Haus vertauschen würden. Nun sagten wir ihnen, wie es uns ginge, daß wir schon lange nach einem größeren Quartier zur russischen Waisenabteilung gesucht hätten und keins finden konnten. Sie boten uns ihr Haus zu diesem Zwecke an. Wir besichteten das Haus, welches uns auch gefiel, nur der Hof war uns zu klein, und das Leben in Halbstadt zu teuer. Nein, Halbstadt konnte es unmöglich sein.
Wir suchten nun in andern Dörfern, aber es fand sich nirgens auch nicht für ein Jahr ein passendes Quartier. Wir kommen bis Wernersdorf, dort schien uns ein Haus passend zu sein, aber der Herr legte auch hier Hindernisse in den Weg. Da waren wir ratlos. So standen wir Pfingsten vor dem Herrn. Die Eltern hatten in Großweide während dieser Zeit schon das zweite russische Kind aufgenommen. Unsere Bitte wurde nun dringender denn zuvor, und viele der Mitarbeiter beteten mit. Da, am Pfinstsonntag erhielten wir einen Brief  von Geschwister N.: „Kommt zieht ein, wir ziehen hinaus und das Haus steht Euch zu Verfügung!“ Das war nun der Weg, den Gott geöffnet. Wir konnten mit der Arbeit beginnen. Aber zuerst mußte unser Glaube noch durch viele Schwierigkeiten.
Die Front kam nach Großweide, und wie es schien, wurde das Umziehen alle Tage unmöglicher. Aber am 2. Juni bekamen wir Mut und Freudigkeit, im Namen Jehovas, der durch alle Hindernisse hindurch helfen kann, mit unseren Fuhren die Front zu passieren. Gott gab wunderbare Gnade. Die Freiwilligen  hielten uns nicht auf und die Bolschewiki gewährten uns freien Einzug. So gelangten wir denn glücklich mit allen unseren Sachen am 3. Juni in Halbstadt an.
Wir haben wohl noch nie so handgreiflich die Gnade und den Schutz Gottes wahrgenommen, wie in diesen Monaten. Gott war mit uns, obwohl mancher Verstandesmensch den Kopf schüttelte, auch manches Gotteskind fragend der Sache gegenüberstand. Wir fühlten in allem Schweren, fast Unerträglichen der ersten Zeit, in der neuen Anstalt: „Gott ist mit uns. Er ist unsere Hilfe und unser Schutz, wenn Menschen uns aus nicht verstehen.“ Ja, Satan hat sein Möglichstes versucht, uns mutlos zu machen, aber es ist ihm durch Gottes Gnade nicht gelungen. Wenn die Not am größten war, da erschien auch Gottes Hilfe. Er, der Vater, verstand es, uns in trüben Stunden zu erquicken. Ihm sei Dank dafür! Auch rufen wir denen einen herzlichen Dank zu, die mit Liebe, Teilnahme und Vertrauen uns in den schweren Anfangstagen wohlgetan haben, die ihre Augen auf den Allmächtigen richteten, anstatt die unsrigen auf die großen Schwierigkeiten, die wir selbst schon so sehr sahen.
Ja, die Verhältnisse liegen so, daß wir niemand verurteilen können, der an das Fortbestehen der Anstalt zweifelt. Aber wir rufen Euch zu: „Glaubt mit uns, vertraut mit uns dem Allmächtigen. Der helfen kann und wird!“ Er, der uns in seinem Worte den Befehl gibt, laut Jesaja 58, 7: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die so im Elend sind, führe in dein Haus, so du einen  nakend sehest, so kleide ihn und entzieh dich nicht von deinem Fleisch,“ wird auch erfüllen, was Er im 11. Verse verheißen hat.  In Maelachie 3, 10 sagt der Herr auch: „Prüfet mich, ob ich nicht des Himmels Fenster auftun werde, und Segen herabschütten die Fülle.“ Wir wollen weiter geben, was Er uns darreicht, und wir haben das Vertrauen zu Ihm, daß Er das Brot vermehren wird.
In den ersten Tagen unseres Entschlusses, im Namen Jehovas vorwärts zu gehen, wurde uns die Frage vorgelegt: „Ja, als eure Eltern in Großweide das Waisenhaus anfingen, da rechnete man mit Kopeken, einzelnen Rubeln oder höchstens mit Hunderten, jetzt aber leben wir in einer Zeit wo man mit Tausenden rechnen muß, und die, die erst die Tausende gaben, können jetzt nicht mehr so geben?“ Ja, gar oft hatten wir daran gedacht, aber aufs Neue kam der Feind und versuchte uns hart. Wir legten es dem Herrn vor und sagten Ihn, wenn wir wirklich auf dem Wege nach Seinem Willen waren, dann solle Er uns und dem Feinde zeigen, daß auch Er, der da spricht: „mein ist Gold und Silber“ mit T a u s e n d e n rechnet. Schwere Kämpfe, schlaflose Stunden verlebten wir, doch die Antwort kam schon am andern Morgen. Ein Bauer wars, durch den Gott uns zeigte: „Auch Ich rechne mit Tausenden und bin nicht gebunden an Reichtum und Reiche, sondern Ich brauche Herzen, die Mir gehorchen und tun, was Ich ihnen sage, ob reich oder arm.“ Gott segne Seinen Knecht mit seiner ganzen Familie, der Er brauchen konnte.
Ein andermal wurden wir gefragt: Was denkt ihr eigentlich bei dieser Zeit, wo alles so teuer ist; denkt ihr, die Schmalztöpfe und Mehlsäcke werden wie früher aufgeflogen kommen? Jetzt denkt jeder an sich, wie er fertig kommen soll und nicht noch an russische Waisenkinder. Solche Reden wurden, dann von unserer Seite, dem Herrnzur Verantwortung vorgelegt! Und was sagte Er, der Allmächtige? Nach einigen Tagen schenkte Er uns ein Töpfchen Schmalz zum Anfangsgebrauch. Und was das Mehl anbetrifft, so ließ Er es zu, daß wir einige Wochen, als die Mehlkrisis war, unser Brot zugeteilt aßen, aber als es ganz zur Neige ging, da schenkte Er uns einen ganzen Sack voll. Er bleibt der Treue! Er versucht uns wohl, aber nicht über unser Vermögen. Wen die Not am größten, ist seine Hilfe am nächsten.
Ja, Er ist treu und sehr gut, lasset uns Ihn dienen mit Freuden. Es ist war – sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht, wenns uns auch oft nicht so scheint! Er ist ja, der jede Entbehrung und jede Entmutigung  mit uns trägt und durchlebt. O daß wir alle, die wir die Hand an den Pflug im Reiche Gottes gelegt haben, mit Seiner Nähe und Hilfe rechnen möchten, auch in den dunkelsten Stunden!
Er kann helfen, selbst wenn keine Aussicht auf Hilfe ist. Werden wir das Unsrige tun, Gott wird`s seinerseits gewiß nicht fehlen lassen.
Dieses erfuhren wir in den letzten Tagen. Wir standen im Gebet und Flehen vor Gott mit einer besonders dringenden Bitte. Erwartungsvoll schauten wir aus, wie der Herr uns helfen würde. Da an einem Nachmittage erschienen eine Schar Hälbstädter Kinder. Mit freudestrahlenden Gesichtern brachten sie zwei Päckchen mit Geld, welches sie mit Fleiß und Eifer sich erworben hatten, um es dann für die russischen Waisenkinder zu opfern. Ja, durch die Unmündigen hat er sich ein Lob zugerichtet. Er sagte uns durch diese Kinder: „Ich denke an Euch und weiß, was Ihr bedürftet und werde Euch zur rechten Stunde helfen.“ Und er half.
Wir müssen mit den Jüngern Jesu auf die Frage: „Habt ihr je Mangel gehabt?“ antworteten: „Nie, keinen!“ Der Herr stillete alle unsre Notdurft zur rechten Zeit durch willige Herzen. Ihm sei Dank, Lob, Preis und Ehre. Habt Dank, auch Ihr lieben Fischauer, Schönauer, Alexandertaler, Pordenauer, Großweider, Franztaler und Pastwaer für jede Gabe, die ihr uns gesandt; der Herr vergelte Euch nach seiner großen Gnade. Gott segne auch alle unbekannten Geber!
Gedenket unsrer, wenn Ihr vor dem Throne Gottes steht. Es grüßen Euch Eure Mitarbeiter im Weinberge des Herrn.
Abr. und L. Harder

   
Zuletzt geändert am 1 März, 2018