Wakanow Chutor. Artikel aus der Zeitung "Красногвардеец" von 1988

 

Übersetzt von Andreas Tissen (Email), alle seine Berichte.

 

 

Unter deutschen Mennoniten in Neu Samara, die ende letzten Jahrhunderts große Länderreien erworben haben, waren auch wohlhabende Bewohner aus dem Ujesd Berdjansk, Gouvernement Taurien. Dazu gehörten vor allem Reimer, Thiessen, Voth, Regehr, Klassen und andere. Aber es gab auch Grundbesitze aus anderen Städten – Pleschanow, Günther, Kisselow, Krassikow, Slobotschikow, Borschew, Durazow. Einige davon haben später ihren Grundbesitz wieder verkauft und sich dadurch bereichert.
Der allerreichsten deutsche Grundbesitzer Henrich Heinrich Reimer besaß 5931 Desj. Land. Außerdem trug er die Verantwortung für den Grundbesitz seiner Schwestern Helene und Anna. Das Land der Schwester Anna (Annenskoje, AT) am Fluss Tock, zwischen Bogomasowo und Nischni Bachtijarowo in der Größe von 724 Desj., wurde im Jahr 1908 für 15 Jahre an 17 deutsche Familien verpachtet. Mit der Bedingung, dass das Land in 15 Jahren wieder geräumt würde und dass die Grundbesitzerin den dritten Teil der Erträgen bekommt. Wie heute bekannt, existierte die Kolonie Annenskoje 48 Jahre. 1956 hat der letzte Bewohner, diese Kolonie verlassen. Kornelius Wiens, einer der Pächter berichtete, dass trotz dieser Pachtbedingungen, keine Wirtschaft in den ersten 10 Jahren wirtschaftlich aufgeben musste.
Der Großgrundbesitzer H.H. Reimer, der unter den deutschen lebte und "König" genannt wurde, hatte selber keine Familie. Er baute sich ein zweistöckiges Haus und zwei Gebäude für die Pferde und Kühe, die mit einem Blechdach überdacht waren. Sein Grundstück umgab ein hoher Zaun. Die Arbeiter des Chutors säten und ernteten das Getreide und hüteten das Vieh. Typisch für ihn war, dass seine Meinung nicht nur bei den Deutschen, sondern auch in den russischen und baschkirischen Siedlungen etwas galt. Heinrich H. hat, nach dem Vorbild von Johann Cornies aus dem taurischen Government, gründlich auf die Ordnung der Wirtschaft der Kolonien geachtet. Er untersagte den Bewohnern das Befahren der Dorf- und Feldwege, wenn der Boden vom Regen nass und aufgeweicht war. Er befahl Wälder zu pflanzen, Gehwege, Brücken, Dorfstraßen und Zäune in Ordnung zu halten. Als großer Pferdeliebhaber ließ er sich im Winter natürlich von seinen Pferden ziehen und im Sommer fuhr er eine Kutsche mit mehreren Pferden. Wenn er unterwegs war, mochte er es nicht, wenn ihn jemand überholte. Für das schnellere Pferd war er bereit den zwei bis dreifachen Preis zu bezahlen.
H.H. Reimer hatte eine Hundezucht, die sich in einem speziellen Hunde-Chutor befand. Dazu gehörte eine ganze Horde von Hunden. Es waren hauptsächlich Wachhunde – Kampfhunde. Einmal passierte es, dass H.H. Reimer im Winder nachts aus dem Haus trat und von seinen eigenen Wachhunden überfallen und mehrfach gebissen wurde. Wenn er unterwegs war, nahm er gewöhnlich einen Bambusstock mit. Diesen speziellen Messstock nutzte er dafür, um das Wachstum der Pferde zu kontrollieren. Dieser Bambusstock war auch der Prügelstock für die „Unartigen“.
Weil er die Revolution kommen sah, verkaufte seine Wirtschaft samt Land an eine Bierbrauerei „Schigulowskogo Firma“ in Samara. Besitzer war Alfred von Wakano. Der übergag dieses Gut seinem mittleren Sohn Erich als Besitz. 1917 ist der älteste Wakano (Vater, AT) nach Österreich ausgewandert. Erich von Wakano begann zu wirtschaften. Aber der Krieg hinderte ihn daran Gerste zu produzieren. Die Ländereien wurden Männern übergeben, die später hier Dörfer wie Alexejewka, Nowojagodnoje, Nowoja-Iwanowka, Dubowi, Karpowka, Ilinka gründeten. Ende der 20er Jahre wurde aus dem Reimer-Wakano-Gut eine Komuna „Komsomolez“ organisiert. Durch diese Ereignisse wurden die Gebäude des Guts und das zweistöckige Gutshaus, sehr vernachlässigt. Auch der Zaun wurde auseinandergenommen und verschleppt. Übriggelassen wurden nur zwei Gebäude ohne Dach. Danach wurde das Dorf Jelenopol wiederhergestellt, welches zurzeit vermutlich seine letzte Stunde durchlebt. Man muss sich wundern über unsere reinrussische Veranlagung – zerstören bis zum Grund, auseinanderschleppen Ziegel für Ziegel, Gewinde für Gewinde. Das sehen wir zurzeit auch z.B. in den Dörfern Podolsk, Lugowsk, Kuterlja und Kaltan. Die besten Wirtschaften im Gebiet wurden durch leichtsinniges wirtschaften bis auf Grund runtergewirtschaftet.
So vergeht der irdische Ruhm. Es gib keine vorbildliche Wirtschaft Reimer-Wakano mehr. Geblieben sind nur Ruinen. Das ist auch das Schicksal der Bierbrauerei „Schigulowskogo Firma“ in Kubischew (heute wieder Samara, AT). Auch das Bier aus der Brauerei Sortschinsk gibt es nicht mehr. Wir begnügen uns mit Bier in Dosen und Flaschen, versehen mit klaren, schönen Etiketten aus dem Ausland. Schade…
A. Shibelev
Allgemeiner Korrespondent, Dorf Podolsk

 

 

Bemerkungen von Andreas Tissen:

A. Shibelev war Gründer und Direktor des Museums in Podolsk zur Geschichte von Neu Samara. Das Museum existiert bis heute und befindet sich seit der Gründung im ehemaligen Wohnhaus von Jakob J. Wieler (1865 – 1956).
Alfred von Wakano (1846 – 1929) war ein österreichischer Unternehmer in Russland. Mehr dazu in der deutschen und russischen Wikipedia.

Der erste Besitzer des Reimer-Geländes mit 7000 Desjatinen war Heinrich Reimer (1837 – 1909) (#207024). Der vererbte das Land an seine Kinder. Einige Kinder haben ihren Anteil dann verpachtet. Einige bauten sich auf ihrem Land ein Chutor. So auch Heinrich H. Reimer (1862-1927) (#662984), von dem in diesem Zeitungsartikel die Rede ist. Siehe auch Ortsseite „Gut Heinrich Reimer“.

 

 

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Zuletzt geändert am 19 Juni, 2018