Kapitel "Ueber die Secte der Hüpfer in den Colonien Süd-Rußlands". Aus dem Buch "Busch, E. H., Hsg. Ergänzungen der Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen- und Schulwesens der Ev.-Luth. Gemeinden in Ruβland. 1. Band. St. Petersburg: Gustav Haessel, 1867." S. 256-65; 364-368

 

Abgeschrieben von Dr. Arnold Neufeldt-Fast (Email), alle seine Berichte.

 

Busch, E. H., Hsg. Ergänzungen der Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen- und Schulwesens der Ev.-Luth. Gemeinden in Ruβland. 1. Band. St. Petersburg: Gustav Haessel, 1867. (gotisch)

Kopie vom Kapitel "Ueber die Secte der Hüpfer in den Colonien Süd-Rußlands". Aus dem Buch "Busch, E. H., Hsg. Ergänzungen der Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen- und Schulwesens der Ev.-Luth. Gemeinden in Ruβland. 1. Band. St. Petersburg: Gustav Haessel, 1867." S. 256-65; 364-368. (gotisch)

 

 

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde der Geistliche Menno Simons (1500—1561) der Gründer einer besonderen Lehre, die durch die strenge Wörtlichkeit, in welcher sie die biblischen Gebote der christlichen Vollkommenheit und der Absonderung von der Welt aufgefaßt und deren praktische Durchführung versucht hat, historische Bedeutung in der neueren Kirchengeschichte erhalten hat. Die Anhänger dieser Lehre bildeten zuerst in Holland, dann auch in verschiedenen Gegenden Deutschlands und der Schweiz besondere Gemeinden und wurden seitdem Mennoniten genannt. In den Jahren 1540 bis 1549 berief Sigismund I., König von Polen, aus Holland, Hamburg und Lübeck die Mennoniten, die sich durch ihre Kenntnisse im Wasserbau ausgezeichnet hatten, zur Trockenlegung der zwischen Danzig, Marienburg und Elbing belegenen Niederungen, gab ihnen diese Ländereien als erbliches Eigenthum und verbriefte ihnen dabei völlige Glaubensfreiheit.
In kurzer Zeit waren die Sümpfe trocken gelegt, Teiche gebaut und das Land in sogenannten Werdern am Ufer der Weichsel bearbeitet. So lebten die Mennoniten in Ostpreußen fleißig, zufrieden und unangefochten bis zum Jahre 1780. Aber unterm 20. März dieses Jahres wurde befohlen, daß sie jährlich 5,000 Thlr. zahlen sollten zum Unterhalt des Cadetten-Corps in Kulm. Neun Jahre später wurde es ihnen untersagt, Land zu kaufen. Dies Verbot erschwerte den Mennoniten das Leben ungemein, weil sie sich vorzugsweise mit der Viehzucht beschäftigten. Ein Theil von ihnen zog daher nach Rußland, wo 1786 die Kaiserin Katharina II. zur Verbesserung der Landwirthschaft und Viehzucht in Neu-Rußland einen Aufruf an die Mennoniten im Auslande erlassen hatte, nach Rußland zu ziehen. In Folge dessen langten im 1.1789 im Gouvernement Jekaterinoslaw 228 Mennoniten-Familien aus Preußen an und nahmen unter den ihnen schon in Danzig von dem Russischen Major von Trapp vorgelegten Bedingen die Dniepr-Insel Chortizyn in Besitz, welche früher dem Fürsten Potemkin gehört hatte. Dort gründeten sie unter Leitung ihrer Führer Heppner und Barth 8 Dörfer.

In den Jahren 1793 bis 1796 kamen noch 118 Familien an, von welchen sich 86 in den Chortizynschen Dörfern, die übrigen 32 aber in der Colonie Kronsgart neben der Evangelischen Colonie Josephthal in den Kreisen Pawlograd und Nowomoskow niederließen. Diesen folgten in den Jahren 1803 und 1804 wieder 362 Familien, zu deren Ansiedlung Land im Kreise Melitopol im Gouvernement Taurien am Flusse Molotschna angewiesen war. Sie gründeten hier 19 Colonien, und zwar 10 an der Molotschna, 6 am Flüßchen Tokmak und 3 am Flüßchen Kuru-Juschanle. //257//

Im Jahre 1819 kamen 75 Mennonitenfamilien und im folgenden Jahre noch 179. Die Zahl aller in Rußland lebenden Mennoniten beträgt etwa 40,000 beiderlei Geschlechts. Sie unterhalten eine ununterbrochene Verbindung mit ihren Brüdern im Auslande, theils durch Briefwechsel, theils dadurch, daß jährlich einige von ihnen ihre Verwandten in Preußen besuchen. Dorthin werden auch nach dem von der Gemeinde gefällten Urtheil diejenigen Mennoniten geschickt, welche sich irgend eines Verbrechens, nur nicht eines Criminal-Verbrechens, schuldig gemacht haben.
Im Jahre 1859 zeigte sich bei einigen Gliedern der Mennoniten-Gemeinde an der Molotschna das Bestreben, sich von der Gemeinde und ihren geistlichen Lehrern zu trennen, ohne aber noch von der Lehre und den Gebräuchen der Mennoniten abzufallen. Nach Aussage der Sectirer hatte zu dieser Trennung Anlaß gegeben, daß unter den Mennoniten sich lasterhafte Leute befanden, für deren Unterweisung und Zurückführung auf den rechten Weg von Seiten der geistlichen Lehrer, der Presbyter, nicht Sorge getragen worden war. Sich auf den Ausspruch der heiligen Schrift stützend: „Ich danke meinem Gott alle Zeit eurethalben für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christo u.s.w." 1 Cor. 1,4—9, welche Stelle von Menno seiner Lehre zu Grunde gelegt worden, begannen die Sectirer sich zu versammeln zur Ausübung ihrer religiösen Gebräuche und zur Feier des heiligen Abendmahls, ohne ihre Presbyter hinzuzuziehen.

Als Hauptbegründer der neuen Secte erwiesen sich die Mennoniten Isaak Knop aus Elisabeththal, Abraham Kornelsen aus Großweide und Joh. Klaassen aus Liebenau, welcher Letztere auch Apostel genannt wurde. Diese Personen vollzogen die Taufhandlung an den in ihre Secte Eintretenden, zogen sich aber den Unwillen Aller zu, als sie die fast nackten erwachsenen Täuflinge männlichen und weiblichen Geschlechts in dem seichten Wasser der dortigen Flüsse tauften. Hauptverbreiter der neuen Lehre waren Wilh. Barthel aus Gnadenfeld und Benjamin und Jacob Becker aus Rundeweide.

Nach wiederholter Ermahnung durch die örtlichen Presbyter und zeitweiliger Ausschließung aus der Kirche enthielten sich die Gründer der Secte nicht allein nicht der Verbreitung ihrer Lehre, sondern thaten noch Alles, um ihre Anhänger zum religiöcen Fanatismus zu entflammen, indem sie zur Nachtzeit in ihren Häusern Versammlungen hielten, in denen sie das Abendmahl austheilten, predigten und zum Schluß der Versammlung sich einer lärmenden Lustigkeit überließen, geistliche Lieder nach weltlichen Melodien sangen uud diese Musik auf der Violine oder Harmonika und mit wilden Tänzen begleiteten. Alles zur Ehre Gottes! wie sie sagten.
Im J. 1860 wählten diese Hüpfer schon eigene Aeltesten, die Deputirten //258// Kornelsen, Knop und Klaassen, und im Mai desselben Jahres besondere „geistliche Lehrer". Solche waren Heinrich Hubert ans Liebenau und Jakob Becker aus Runde weide, welche nun öffentlich die Wiedertaufe im Flusse Juschanle unter freiem Himmel verrichteten, indem sie behaupteten, daß alle diejenigen, welche nur einmal die Taufe erhalten hätten, im Namen des Teufels getauft wären. Sie bekannten öffentlich im Beisein des Kirchen-Convents der Mennoniten an der Molotschna, daß sie jeder Gemeinschaft mit dem Kirchen-Convent und der örtlichen Obrigkeit entsagten und sich deren Anordnungen nicht unterwerfen würden, weil sie selbst „wahre Christen", die übrigen Mennoniten aber verirrte Schafe seien.

Im J. 186l zeigte sich eine eben solche Secte in einigen Mennoniten-Colonien auf der Dniepr-Insel Chortizyn im Gouv. Jekaterinoslaw. Ihre Häupter waren hier die Mennoniten Heinrich Neufeldt und Abraham Unger aus der Colonie Einlage und Gerhard Wiler aus der Colonie Chortiz. Die Anhänger der Secte, welche Lehre und Gebräuche der Mennoniten verwerfen, vollziehen an Jedem, der sich der Secte, in welche nicht nur Mennoniten, sondern auch Personen anderer Confessionen, namentlich Lutheraner aufgenommen werden, die Taufe, indem sie die mit einem eigens dazu angefertigten Taufgewande bekleideten Täuflinge im Wasser untertauchen. Die Aeltesten der Secte behaupten in Bezug auf ihre Ermächtigung zur Verrichtung der Taufe und Austheilung des heil. Abendmahls, daß Taufe und Abendmahl bei den Mennoniten nicht mehr nach Vorschriften der heil. Schrift ertheilt würden, daß die „Brüder" sie daher zu ihrem Amte berufen hätten, und der heil. Geist selbst bezeuge diese Berufung, indem er spreche: „Dienet der Gemeinde zur Ehre Gottes!" Alle Ermahnungen von Seiten der Presbyter und der weltlichen Obrigkeit der Mennoniten zu Chortizyn, alle Bitten, ihren Irrthümern, als auf einer falschen Auslegung der heil. Schrift beruhend, zu entsagen, unter Androhung der Entfernung aus der Colonie, blieben ohne Erfolg, und die Antworten der Sectirer beschränkten sich darauf, daß sie darauf hinwiesen, wie die Gerechten nur durch viele Leiden ins Himmelreich eingehen könnten, daß sie diesen Gerechten nachfolgen müßten, indem sie bereit seien, sich allen Leiden zu unterwerfen, und daß sie daher nicht einem Glauben entsagen könnten, der ihnen gebiete, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Außerdem bemühten sich diese Sectirer, welche ihre Wirthschaft gänzlich vernachlässigten, eifrigst, ihre Irrlehren auf jede Weise zu verbreiten, und ihr Fanatismus ging so weit, daß sie in der Colonie Einlage die Erbauungsbücher, welche von frommen Mennoniten gelesen werden, wie z. B. Joh. Arndts Wahres Christenthum, Hofackers Predigten und Starcks Handbuch, öffentlich verbrannten, weil, wie sie sagten, //259// der Inhalt dieser Bücher vom rechten Wege zu Gott abführe. In ihren gottesdienstlichen Versammlungen singen, hüpfen, tanzen, jauchzen sie und küssen sich. Diese Fröhlichkeit nennen sie „Seligkeit im Namen des heil. Geistes", indem sie hinzufügen, daß sie schon jetzt selig wären und im Vorgefühl der Ewigkeit lebten, da sie die Gemeinde der Heiligen bildeten. Zu dieser Secte gehörten am 5. Jannar 1861 30 Familien mit 169 Seelen. Im October 1863 taufte Wiler im Dniepr einen Russischen Bauerknaben Namens Matthäi Sabulenko und im April 1864 den 22 Jahr alten Charkowschen Bürger Andreas Petassenko.

Im Mai 1864 erschien dieselbe Secte in der Colonie Neu-Danzig im Kreise Chersonsk, 40 Werst östlich von Nikolajew. In diese Colonie, deren Bevölkerung der Lutherischen Kirche angehört, kamen Wiler und Becker und begannen zu predigen über die Nothwendigkeit einer zweiten Taufe im volljährigen Alter. Zu derselben Zeit, am 3. Mai, während Probst Adber in der dortigen Kirche die Jugend confirmirte und das Abendmahl austheilte, hielten Wiler und Becker Gottesdienst in einem Privathause. Am 5. Mai. 10 Uhr Morgens, in Anwesenheit vieler Russen und Deutschen und unter Begleitung von Flintenschüssen, tauften sie im Flusse Ingul unweit der Colonie elf Colonisten der Colonie Neu-Danzig, 7 Männer und 4 Frauen, Lutheraner, Reformirte und Katholiken. Bald darauf wählten die Neubekehrten den Sectirer Friedrich Engel, der mehrere Taufen verrichtet hatte, zum Aeltesten. Die Anhänger dieser Secte zeigten sich auch in Alt-Schwedendorf und unter den Deutschen Musterwirthen der neben Neu-Danzig belegenen Juden-Colonie Dobroi. Zu dieser Seete gehören in Neu-Danzig 20 Familien, in den beiden Schwedischen Colonien 2 Familien, in der Juden-Colonie Dobroi 2 Familien.

Nachdem die Mennoniten an der Molotschna gefragt worden waren, was sie glaubten, daß mit den Sectirern geschehen sollte, antworteten diese, das einzige Mittel sei, die Verführer aus dem Reiche zu verbannen, die Verführten aber in entlegenen Gegenden des Reiches, am Amur oder im Kaukasus anzusiedeln. Inzwischen hatten die Sectirer an der Molotschna sich mit der Bitte an den Statthalter von Kaukasien gewandt, ihnen dort Land anzuweisen. Im October 1863 bewilligte der Statthalter 6,500 Dessätin am linken Ufer des Kuban für 100 Familien. Im Januar 1864 befahl der Minister der Reichs-Domainen, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen, um sämmtliche Sectirer nach dem Kuban überzusiedeln. Die Hauptanstifter der Bewegung wurden aus dem Reiche verbannt. Von diesen Verbannten kamen Einige nach kurzer Zeit heimlich zurück, wurden aber ergriffen und gefangen gesetzt, um jetzt nach Sibirien transportirt zu werden. In ihrer mehrmonatlichen //260// Gefängnißhaft wurden sie für geistlichen Anspruch empfänglich, öffneten ihre Herzen der Stimme der Wahrheit und widerriefen ihre Irrthümer. In Folge dessen wurden sie begnadigt und durften im Lande bleiben.

Haben wir im Obigen die ersten Anfänge und die Entwicklung der Secte darzustellen versucht, so dürfte es jetzt nicht uninteressant sein, den Ursachen ihrer Entstehung nachzuforschen.

Die Geschichte der Mennoniten nach dem Tode des Stifters ihrer Gemeinde ist ein beständiger Kampf zwischen der strengen und gemäßigten Partei, von welchen die ersteren sich wieder in strengere und allerstrengste bis zu den „Allerfeinsten" spalteten. Grotius berichtete schon 1614, sie seien in so viele Seelen zerspalten, daß man diese kaum zählen könne. Verbrüderungsversuche wurden oft unternommen, z.B. in den Jahren 1591, 1630 und 1649, waren aber ohne Erfolg. Die Mennoniten, die sich in Rußland niederließen, gehörten von Anfang an zweien verschiedenen Parteien an, der Flamländischen in der Niederlassung auf Chortizyn und der Friesländischen in der Colonie Kronsweide. Wesentliche Unterschiede in Lehre und Gebräuchen dieser Kirchen existirten nicht, und die Mitglieder beider schlossen ungehindert Ehebündnisse unter einander, aber beim Uebertritt von einer Kirche zur andern wurde, als ob sie in eine fremde Kirche träten, ein Attest von ihnen gefordert. Auf Grund ihrer Presbyterial-Verfassung schreiben die Mennoniten sich das Recht zu, im Fall einer Unzufriedenheit sich von ihrer kirchlichen Gemeinde zu trennen und eine neue mit besonderen Ordnungen zu gründen, und die Mennoniten in Rußland — obschon sie im Allgemeinen sich auf die heil. Schrift und die Schriften Menno Simons, als auf die einzige Anleitung in Lehre und Leben, berufen — bildeten seit langer Zeit getrennte Kirchen, in welchen die Aeltesten und Prediger die Gebräuche nach besondern nicht untereinander übereinstimmenden Regeln, nach Verschiedenheit des Bekenntnisses festsetzten, indem sie sich dabei auf das Privilegium stützten, welches ihnen freie Religionsübung znspricht. In Folge dieser Spaltungen, aus welchen in den letzten 20 Jahren eine Theilung der Mennoniten an der Molotschna in sieben getrennte Kirchen hervorging, entstehen unaufhörlich Kämpfe, welche die frühere kirchliche Ordnung ins Schwanken bringen und abschwächen. Der Glaube an die Unfehlbarkeit ihrer Lehre ist durch die verschiedene Auslegung derselben von Seiten der Presbyter so erschüttert, daß die Ermahnungen und Strafen von Seiten der Kirchenältesten und Prediger oft ohne alle Folgen blieben und sogar die weltliche Obrigkeit gezwungen war, sich in diese Angelegenheiten zu mischen, um Ruhe und Frieden unter den Eingepfarrten und Mäßigung unter den Predigern wiederherzustellen.

Bei diesen Streitigkeiten zeigte sich bei dem größten Theil der Mennoniten //261// eine große Gleichgültigkeit gegen den Glauben überhaupt. Sie erfüllten die Vorschriften ihrer Religion rein äußerlich. Das Verständniß des innersten Wesens derselben war ihnen abhanden gekommen, und in Folge davon trat eine große Sittenverderbniß ein. Deshalb klagen die Hüpfer: „Schmerzlich ist es uns zu sehen, wie auf den Jahrmärkten die Mennoniten unter den Augen ihrer Nachbarn ein diabolisches Leben führen und selbst die geistlichen Lehrer die Gelage besuchen und ruhig zusehen, wie ihre Eingepfarrten dort dem Teufel dienen." —

Zum vollen Verständniß der letzten Spaltung ist es nothwendig, einen Blick auf den ungewöhnlichen Einfluß zu werfen, welchen Pastor Wüst seit dem Jahre 1845 auf Personen der verschiedensten Glaubensbekenntnisse in Süd-Rußland ausübte. Freund und Feind bekennt, daß Wüst große Gaben besaß, und seine Predigten die Zuhörer mächtig anzogen und überzeugten. Seine Worte entflammten die Zuhörer, indem er mit lebendigen Farben die Leerheit und Friedlosigkeit ihrer Herzen beschrieb und auf das reiche Erbarmen Gottes hinwies, das in Christo Jesu erschienen. Die Leichtsinnigen und Spötter verstummten, freche Sünder gingen in sich und thaten Buße; aus ganz Süd-Rußland, von Nah und Fern, von Odessa bis zum Kaukasus, und von der Krim bis Charkow kamen Leute aller Confessionen und aller Stände zusammen, um seine Predigt zu hören.

Auf einen Theil der Mennoniten war Wüsts Einfluß unbegrenzt, besonders auf Joh. Klaassen aus Liebenau an der Molotschna und auf Heinrich Neufeldt aus der Colonie Einlage in der Ansiedlung von Chortizyn. Nach Aussage der Colonisten soll schon im J. 1855 in der Colonie Einlage die neue Secte sich gezeigt haben. Aber erst 1859 traten Klaassen und Neufeldt mit ihren Anhängern gegen die Verderbniß unter den Mennoniten und den Abfall von der reinen Lehre auf, indem sie sprachen: ,So wie wir durch das grundlose Erbarmen Gottes, das uns durch Seinen eingeborenen Sohn, den Er zu uns gesandt, verkündigt ist, Sein Erbarmen geschmeckt haben, und glauben an die Reinigung von allen Sünden durch das Blut Jesu Christi, so hat Er uns auch den Muth und die Kraft geschenkt, dem Verderben des Volkes zu widerstehen und insbesondere dem Verfall der Kirche und ihrer Pflegebefohlenen, indem wir offen unsern Glauben bekennen und ihre todten und dunkeln Werke strafen. Durch das Licht des heil. Geistes und durch das Studium der heil. Schrift sind wir dahin gelangt, daß wir nicht mehr Gemeinschaft haben mit den Ungläubigen und den in offenen Sünden Lebenden, nach 2 Cor. 6, 14—18, und am wenigsten im heiligen Abendmahl, nach 1 Cor. 10, 17—22. Da wir sahen, daß unsere Brüder den Geboten der heil. Schrift nicht mehr nachlebten und ein unsittliches Leben führten, faßten wir, die wir die Bibel als Führer zur Seligkeit ansehen und als Nacheiferer derselben, den Entschluß, nach dem Beispiel unserer Vorfahren und nach unserer Auffassung der Person des Heilandes, ohne im Geringsten die Vorschriften unserer Religion zu verletzen, fortan den Lehren der heil. Schrift getreu nachzuleben. Dieser Entschluß wurde um so fester in uns, als wir sahen, daß die von den Mennoniten aus ihrer Mitte gewählten geistlichen Lehrer nicht allein größtentheils nicht einmal eine mittelmäßige Bildung erlangt hatten, sondern auch wenig den Geist der heil. Schrift verstanden und sie ganz anders und ganz abweichend von uns auslegten. Durch Letzteres namentlich wurden wir gezwungen, auch wider unser anfängliches Wollen, uns eigene geistliche Lehrer zu wählen."

Ganz natürlich war es, daß bei einem solchen Verfall der Kirche, des Glaubens und der Sittlichkeit eine Reaction eintrat. Außer Klaassen und Neufeldt standen noch andere Mennoniten auf, denen die Religion Herzenssache war und die deshalb mit Kummer auf den Verfall derselben sahen, und forderten das Aufhören der ewigen Streitigkeiten und Reinigung der Lehre von eingeschlichenen Neuerungen. Die Leute, die dies verlangten waren eben Hüpfer. Eine ihrer Hauptforderungen bestand darin, daß die Prediger ihnen das heil. Abendmahl so oft reichen sollten, als sie es zu empfangen wünschten, da sie als Gläubige öfter Verlangen hätten nach dem Sacrament des Altars, als die übrigen Glieder der Gemeinde. In den Mennoniten-Gemeinden waren nämlich nur zwei Sonntage im Jahre zum Genuß des heil. Abendmahls festgesetzt, und die Ertheilung desselben an Kranke zu Hause war in manchen Gemeinden ganz unbekannt. Da die Aeltesten und Prediger nun das Verlangen der Sectirer nach öfterem Genuß des heil. Abendmahls als Neuerung und die Einheit des Glaubens störend zurückgewiesen hatten, versammelten sich die Hüpfer zur Feier und Austheilung des Abendmahls unter einander. Als ihnen diese Zusammenkünfte von der Obrigkeit verboten wurden, reichten sie bei derselben nachstehende Erklärung ein:

„Um Gottes und unsers Gewissens willen können wir das frühere Leben in Gemeinschaft mit Euch nicht fortsetzen, denn das offenbar gottlose Leben schreit zum Himmel, und deshalb trennen wir uns von der gefallenen Kirche und wollen nach dem Rechte, dessen sich die übrigen Gemeinden bedienen und auf Grund der Lehre und des Bekenntnisses des Menno eine besondere Kirche bilden, in welcher das Leben dem Bekenntnisse entspricht."

Am 18. Januar 1860 entschied die Aeltesten-Conferenz der Mennoniten, daß solchem Begehren nicht nachgegeben werden könne.

Hier drängt sich Einem unwillkürlich die Frage auf, nach welchem Recht denn die übrigen getrennten Mennoniten-Kirchen in Süd-Rußland bestehen, //263// die sich in ihren Gebräuchen und Ordnungen doch sehr von einander unterscheiden!?

Auf Befragen, ob sie eine neue Lehre predigten, antworteten die Hüpfer einstimmig, daß sie sich in Allem nach der Lehre Menno Simons und der heil. Schrift richten und in keinem Punkt von derselben abweichen. „Wir bilden keine Secte, sondern sind die Gemeinde der Heiligen", ist ihre stete Gegenrede. Auf die Frage, wie es komme, daß sie, die Hüpfer, eine andere Auslegung der Schrift hätten als die übrigen Mennoniten, lautet die Antwort: „Weil wir erleuchtet sind und Ihr es nicht seid, sobald Ihr erleuchtet fein werdet, werdet Ihr die Schrift ebenso auslegen wie wir."

Während die übrigen Evangel. Colonial-Gemeinden Süd-Rußlands unter Führung ihrer Geistlichen mehr oder weniger rasch auf dem Wege geistiger und geistlicher Entwicklung fortschritten, blieben die Mennoniten auf der Bildungsstufe stehen, welche sie bei ihrem Eintritt ins Land inne gehabt, indem sie auf jede Weise ein Zusammenstoßen mit Personen anderer Herkunft und anderer Confession, eben so wie die Einflüsse weltlicher Wissenschaft und Kunst durch starres Festhalten an alten Sitten und Gebräuchen vermieden, da sie kaum Gegenständen, die zur Entwicklung der Gewerbthätigkeit in ihren verschiedenen Zweigen dienen, den Eingang bei sich gestatteten. Obgleich nach der Lehre des Menno die Kirche die strengste Sittlichkeit von ihren Gliedern fordert, und eine Kirchenordnung mit kleinem und großem Bann existirt, wurde die Kirchenzucht dennoch so lax gehandhabt, daß offenkundige Sünder von den geistlichen Lehrern nicht gestraft wurden, und diese sogar von der Jugend vor der Taufe weder Glauben noch Buße forderten. Dies erregte bei den Bessergesinnten natürlich große Unzufriedenheit. Mit solchen Unzufriedenen verbanden sich Leute, die durch irgend welche Umwälzung der bestehenden Verhältnisse aus ihrer bedrängten ökonomischen Lage zu kommen hofften.

Vorzugsweise unter diesen gab es Heuchler, welche den Schein der Frömmigkeit annahmen, um in den Ruf der Heiligkeit zu kommen und so die Lehrer Anderer zu werden. Anfangs gingen diese falschen Heiligen in den Häusern umher, um unter dem Schein, das Wort Gottes nach dem Bekenntnisse des Menno zu lehren, den Zuhörern ihre eigenen Ansichten und Ideen beizubringen. Sie legten die Schrift aus, aber nicht der Wahrheit gemäß, redeten unter Thränen und Seufzern, prophezeiten von der Wiederkunft des HErrn, behaupteten, daß der Antichrist schon in die Welt gekommen sei und in ihr herrsche, und bemühten sich auf jede Weise, die Gemüther zu erregen und für sich zu gewinnen. Dann traten sie als Apostel auf und predigten, versichernd, daß sie ausdrücklich von Gott gesandt seien, die Brüder zu retten und dazu vom heil. Geist besondere Offenbarungen empfangen hätten. Die Schwachen // 264// und Leichtgläubigen unter den Mennoniten fielen ihnen in hellen Haufen zu; die übrigen traten ihnen entgegen. Nun zeigte sich bei diesen, wie bei allen Sectirern, das Streben nach Separirung und Widerstand gegen weltliche und geistliche Obrigkeit. Kaum war ihnen der Genuß des heil. Abendmahls, getrennt von den übrigen, in ihren Augen ungläubigen Mennoniten nicht zugestanden, so versammelten sie sich in Privathänsern, um den Gottesdienst und die Austheilung des Abendmahls auf ihre Art zu feiern, und baten um Erlaubniß, eine eigene kirchliche Gemeinde bilden zu dürfen, verpflichteten sich aber schriftlich, bis zur Entscheidung dieser Angelegenheit, keine gottesdienstlichen Versammlungen zu halten und keine geistlichen Amtshandlungen zu verrichten. Dies Versprechen wurde aber nicht von ihnen gehalten, indem sie sich fest aneinander schlossen, die „Gemeinde der Heiligen" gründeten und keiner Anordnung der Obrigkeit Folge leisteten, mit Berufung auf Mennos Grundlehre und den Ausspruch der heil. Schrift, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Apostelgeschichte 4, 19. 20.

Eine der Hauptlehren der Hüpfer ist die, daß jeder wahrhaft gläubige Christ wieder getauft werden müsse, weil nur dann die Taufe dem Getauften Anspruch auf Erwerbung der ewigen Seligkeit gebe, wenn sie unter freiem Himmel in einem Fluß durch Untertauchen des ganzen Körpers vollzogen werde. Anfangs vollzogen die Sectirer die Wiedertaufe nur bei Lutheranern und Reformirten, dann auch bei Katholiken und endlich bei Griechen, indem sie behaupteten, daß diese alle als ungläubig zu betrachten seien eben wie Juden, Muhamedaner und Heiden, und sie verpflichtet wären, diese zur Rettung ihrer Seelen durch die Taufe und zwar nach der in der Schrift vorgeschriebenen Weise, welche von ihnen wieder ins Leben gerufen worden, in die Gemeinde der Heiligen aufzunehmen. Zuerst thaten sie dies selten und geheim, später aber bei jeder Gelegenheit öffentlich, fuhren von Ort zu Ort, überall hin, wie sie sagten, wohin sie von solchen gerufen würden, die zur Rettung ihrer Seelen in die neue Gemeinde einzutreten wünschten. Zur Rechtfertigung ihrer Taufweise führen sie die Taufe Christi durch Johannes und die Taufe des Kämmerers aus Mohrenland durch Philippus an, die beide im Flusse vollzogen seien. Bei solcher Anwendung des Wortes Gottes ebenso wie bei Wiederholung der wenigen von ihnen auswendig gelernten ihrem Zweck entsprechenden Schriftstellen in den Disputationen mit ihren Gegnern über Gegenstände des Glaubens zeigen sie ein blindes Sichhalten an den Buchstaben. Will Jemand ihnen ihre Irrthümer aus der Schrift widerlegen, so blicken sie dem Opponenten starr in die Augen und antworten listig lächelnd: „Schade, daß Sie, der Sie der Wahrheit so nahe sind, nicht ganz der Welt entsagen und die heilige Gemeinschaft genießen wollen, in welcher wir mit dem HErrn stehen!"//265//

Sich ganz dem Einflusse frommer Gefühle hingebend, sind diese Eiferer für Ceremonien — denen sie magische Kräfte zuschreiben — und für den Buchstaben Kinder am Verständniß, aber eben deshalb überzeugt von der Unfehlbarkeit ihrer Lehre und möchten nun ihre subjectiven Ansichten zu einem Gesetz für Alle machen. Alles im Leben, selbst das Allergeringste, ist durch unabänderliche Regeln festgestellt. Wein, Tabak, Tanz, Spiel, Theater sind streng verboten.

Diese aus den Mennoniten-Gemeinden hervorgegangenen Sectirer, welche sich einzig und allein auf die Schrift gründen wollten und jegliche Ueberlieferung, selbst die mit der Schrift übereinstimmende, also auch die Kirchengeschichte, als

Menschenfündlein verwarfen, kämpfen für ihre Lehre mit einem unbeschreiblichen Haß nicht nur gegen die Mennoniten, sondern gegen alle christlichen Kirchen. Die Reformirten und Lutherischen Prediger sind in ihren Augen dem Antichrist ähnlich und predigen von ihren Kanzeln nicht das Wort Gottes, sondern ihre eigene Weisheit, ohne an die Rettung der ihnen anvertrauten Seelen zu denken.

Die Hüpfer halten sich für die auserwählten Kinder Gottes, durch dessen Ausgießung des heil. Geistes auf ihre Brüderschaft sie zu einerlei Glauben und Erkenntniß des Sohnes Gottes gekommen und ein vollkommener Mann geworden, derda ist in der Maaße des vollkommenen Alters Christi, Ephes. 4,13, und stellen so das Reich Gottes auf Erden dar unter der unmittelbaren Regierung des einigen Hirten Jesu Christi bis zu seiner Wiederkunft zum Gericht.

 

II» Der Moskausche Consistorial-Bezirk.

S. 364-68

Das Sectenwesen in den Wolga-Colonien.

Schon seit längerer Zeit hatten in einigen Colonien des Kirchspiels Lesnoi-Karamysch unter Leitung von Colonisten Privat-Andachtsversammlungen stattgefunden, welche, weil von den Predigern beaufsichtigt, für völlig unschädlich gehalten wurden, als zu Ende des Jahres 1859 zwei Mennoniten aus der Molotschna erschienen, die unter dem Vorwande, die heil. Schrift zu verbreiten, hinter dem Rücken der Prediger anti-evangelische Lehren verkündigten, sich an die Spitze der erwähnten Privat-Andachtsversammlungen stellten und große Verwirrung in den Gemüthern anrichteten. Beim Beginn ihrer nächtlichen Versammlungen begrüßten sich die Theilnehmer, Männer und Weiber, mit dem Kuß des Friedens und stürzten sich dann in einen wilden Glaubens- und Freudenrausch, in welchem sie ihre Tänze und Jubellieder mit Stampfen und Händeklatschen begleiteten, bisweilen auch das heil. Abendmahl untereinander austheilten. Diese Schwärmer nannten sich „die neuen Brüder" und stellten folgende Glaubenssätze auf:
1. Jesus Christus hat uns gesandt, damit wir Zeugniß von Ihm ablegen.
2. Wir sollen die suchenden Seelen erretten und eine sichtbare Gemeinde der Heiligen sammeln. //365//
3. Alle gläubige Seelen, die sich sammeln lassen, können nicht mehr in der verderbten Kirche bleiben und mit den todten Christen das heil. Abendmahl empfangen.
4. Wer einmal wie wir die Gnade des HErrn erfahren hat und in Christo gerecht ist, der kann nicht mehr sündigen und aus der Gnade fallen; für den giebt es keine Buße mehr.
5. Die Christen sind trotz ihrer Taufe um nichts besser als die Heiden, so lange sie nicht die Geistestaufe erhalten haben. —
Obgleich die beiden Mennoniten und ein von ihnen verführter Lutherischer Bibel- Colporteur dem Pastor von Lesnoi-Karamysch versprochen hatten, das Kirchspiel zu verlassen, so thaten sie dies doch nicht, und war derselbe gezwungen, die weltliche Behörde zu bitten, die drei genannten Personen aus den Colonien zu entfernen.
In einem Gespräch mit dem Bezirks-Probst erklärten die Sectirer darauf, daß sie von einem Ausscheiden aus der Kirche nichts wissen wollten, wenn es ihnen auch schwer fiele, mit unlautern Christen zusammen das heil. Abendmahl zu nehmen. Sie gaben zu, daß es keine Kirche von lauter wahren Christen gebe und verneinten ausdrücklich, daß man nicht aus der Gnade fallen könne und keiner Buße mehr bedürfe.

Hinsichtlich der Taufe sei ihre Meinung gewesen, daß zu derselben noch die Geistestause behufs des Seligwerdens hinzukommen müsse, und erst nachdem sie den Glauben und den heil. Geist empfangen, sei ihnen ihre Taufe recht wichtig geworden. Nur von einer Ausschließung der Weiber in Bezug auf das Recht, in der Versammlung öffentlich zu sprechen, wollten sie ebenso wenig wie von dem Gefährlichen des Kusses als Zeichen der Bruder- und Schwesterschaft etwas wissen.
Drei im März 1860 von den erwähnten Mennoniten und dem Lutherischen Bibel-Colporteur, als den Häuptern der Secte, an alle Saaratvwsche Christen gerichtete Briefe zeugen von dem unglaublichen geistlichen Hochmuth, welcher alle nicht zu den Schwärmern gehörende Christen und namentlich die Lutherische Kirche als „Babel" bezeichnet; sie zeugen von dem Wohlgefallen an einem vermeintlichen Märtyrerthum, dem die „Brüder" unterworfen seien, von einem völligen Berauschtsein durch das Gefühl, zu den Auserwählten des HErrn zu gehören, womit die Vermahnung zur Standhaftigkeit im Ausharren unter den Verfolgungen von Seiten des sogenannten Babel, sowie Warnung vor bösen Geistern, die namentlich in Amerika ihr Wesen treiben sollen, verbunden ist. In einem dieser Briefe, welche vielfach mit Liederversen, die meist mit einem triumphirenden Halleluja schließen, durchwebt sind, wird noch ausdrücklich vor dem gemeinschaftlichen Genuß des heil. Abendmahls mit den Kindern der Welt gewarnt und derselbe als sündlich verworfen, und solche //365// Anschauung durch l Cor. 10, 7 begründet. Die Pastoren und Teufel werden häufig identificirt und die Brüder zum Kampf gegen sie ermuthigt. Der Briefsteller nennt die Schwärmer „Heilige Brüder und Schwestern".

Im Jahre 1861 nahm die Schwärmerei eine immer drohendere Gestalt an und trieb die Leute immer weiter auf der Bahn des Separatismus. Sie blieben dabei, daß die Kirche „Babel” sei, nannten sich selbst die „Heilige Gemeinde" oder die „Gemeinde der Auserwählten", theilten das Abendmahl wie» der unter sich aus, verwarfen aber den Consecrations-Act, weil Christus einst für alle Zeiten Brot und Wein gesegnet habe. Allein im Kirchspiel Lesnoi-Karamysch war die Zahl der Sectirer auf 140 gestiegen und von hier aus verbreitete sich die Secte über die benachbarten Gemeinden, namentlich nach Norka, Ust-Kulalinka, Ust-Solicha und selbst nach dem entfernten Torgun; 1863 auch nach Medwedizko-Krestowoi-Bujerak.

Nach fünf lebhaften Religionsgesprächen, die der Pastor von Lesnoi-Karamysch mit den dortigen „Heiligen Brüdern” gehabt, erklärte die Mehrzahl derselben im Jahre 1861 schriftlich:
1. daß sie in Bezug auf ihre Lehre von der Bekehrung, dem Gnadenstande, der Heiligung, dem rechten Gebrauch der christlichen Freiheit und der Communion, sowie endlich in Betreff des Ausscheidens aus der Lutherischen Kirche sich geirrt hätten, nunmehr aber mit den Bekenntnißschriften derselben übereinstimmten;
2. daß es ein Fehltritt ihrerseits gewesen sei, das heil. Abendmahl unter sich zu halten, daß solches aber aus Gewissensbedenken geschehen sei und weil die Kirchenzucht in der Lutherischen Kirche so schlecht gehandhabt werde, um deren Restituirung sie daher bäten;
3. daß sie an der öffentlichen Communion und den allgemeinen Gottesdiensten wieder Theil nehmen wollten, man ihnen jedoch gestatten solle, sich in Privat-Andachtsversammlungen noch außerdem zu erbauen, weshalb sie um deren Genehmigung sowie um Schutz gegen Mißhandlung bäten,
4. endlich, daß sie sich in den Privat-Andachtsversammlungen ganz in den vom Kirchengesetz vorgeschriebenen Grenzen halten wollten, mit dem Hinzufügen, daß der Pastor dann aber auch für und nicht wider sie sein sollte.

Hierauf gestattete die geistliche Oberbehörde die erbetenen Privatversammlungen und verfügte dabei, daß diejenigen, welche sich zu diesen Versammlungen hielten, weder Separatisten genannt, noch als solche angesehen werden sollten. Ferner dürfe keine besondere Aufnahme in diese Versammlungen stattfinden und letztere für Keinen, der an denselben Theil nehmen wolle, verschlossen sein; mit einem Worte, nicht eine geschlossene Brüderschaft, sondern nur eine freie Gemeinschaft solcher, welche sich zu einer in der Evang,-Luther. Kirche //367// erlaubten Erbauung vereinen, sei gestattet. Dann forderte die geistliche Oberbehörde noch die Prediger auf, nicht allein selbst möglichst oft solchen Versammlungen beizuwohnen, sondern auch achtbare Gemeindeglieder, die nicht zu den „neuen Brüdern" gehört hätten, zur Theilnahme an denselben zu veranlassen.

In Folge dieser Erlaubniß wurden nun in mehreren Colonien Privat-Andachtsversammlungen unter Aufsicht des Predigers eröffnet und hatten guten Fortgang. Daneben machte sich aber alsbald wieder eine separatistische Richtung mit gesteigertem Eifer geltend, und gerade aus der Mitte Derer, welche dem Pastor zu Lesnoi-Karamysch die schriftliche Erklärung gegeben hatten, gingen die Häupter dieser Richtung hervor. Angefacht war dieser neue Brand wieder durch Briefe aus der Molotschna. Hatte es auch anfänglich geschienen, als ob die Ausweisung der aus der Molotschna herübergekommenen Verführer heilsam gewirkt, so zeigte sich doch jetzt, daß die briefliche Verbindung mit ihnen, die ja auf keine Weise gehindert werden konnte, mehr Unheil anrichtete, als der persönliche Verkehr zu Wege gebracht hatte. Die „Heiligen" hielten nun fortwährend ihre besonderen Zusammenkünfte, in denen auch das heil. Abendmahl von ihnen ausgetheilt wurde.

Eigentlich durfte es nicht überraschen, daß so tiefgehende Verirrungen nicht rasch und mit einem Schlage beseitigt werden konnten, und auch daß Männer, welche die erwähnte schriftliche Erklärung abgegeben, sich wieder an die Spitze der unkirchlichen Richtung gestellt, konnte nicht befremden, wenn man den Inhalt jener Erklärung näher ins Auge faßt. Es war in derselben gesagt worden, die „Brüder" würden sich der Ordnung der Kirche fügen, hätten aber ihren frühern Schritt aus Gewissensbedenken gethan, indem es ihnen zu einem großen Anstoße gereiche, daß in der Lutherischen Kirche die Kirchenzucht nicht nach dem Worte Gottes geübt werde. Die eigenhändige Austheilung des Abendmahls sollte nicht mehr vorkommen; sie fühlten sich aber gedrungen, die Bitte auszusprechen, es möchte darauf gesehen werden, daß die Kirchenzucht laut apostolischer Anordnung strenge gehandhabt werde. —

War es nun ein Wunder, daß die Sectirer, da die Bitte um strenge Handhabung der Kirchenzucht nicht erfüllt ward, es vielmehr ganz beim Alten blieb, sich wieder aus Gewissensbedenken abwandten, zumal ihre Augen nichts Anderes sahen, als daß die Kirche, statt an den „Weltkindern" Zucht zu üben, sich den „Heiligen Brüdern" sehr unfreundlich erwies?

Inzwischen hatte die weltliche Obrigkeit einige Häupter der „Brüder" wegen Uebertretung der obrigkeitlichen Befehle in Betreff der besondern Gebets» versammlungen und der Austheilung des Abendmahls gefänglich einziehen //368// und mit Ruthen streichen lassen. Jetzt hatten die Sectirer, was sie wünschten, nämlich Märtyrer. Nun sagten sich sogleich die zum Kirchspiel Torgun gehörigen Colonien Neu- und Alt-Weimar, Neu-Galka und Straßburg, wohin sich die neuen Märtyrer sogleich gewandt hatten, von der Ev.-Lutherischen Kirche los, hielten selbst zur Kirchenzeit ihre besondern Versammlungen mit Abendmahlsfeier und erklärten, forthin alle kirchlichen Handlungen selbst vollziehen zu wollen. Auch in den neuen Ansiedlungs-Gemeinden im Jeruslanschen Kreise, namentlich in der Colonie Friedenseld, traten jetzt die „Brüder' auf und erklärten ihre Absicht, eine neue apostolische Kirche aus lauter Gläubigen und zwar unter den Kirgisen und Tataren gründen zu wollen.

Was die Lehrsätze der Sectirer betrifft, so sind dieselben seit 1861 im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Kirche ist nach ihrer Ansicht um ihrer Verweltlichung willen nicht mehr „Kirche Gottes" zn nennen und ihre Sacramente sind nicht mehr heilskräftig. Von einer Rechtfertigung durch den Glauben wollen sie nichts wissen, statt dessen wird Sündlosigkeit ihres Strebens hingestellt; die heil. Schrift wird ganz willkürlich nach dem „Geist" (dem eigenen) gedeutet und dieser treibt unwiderstehlich, das neue Evangelium zu verbreiten. Wiedertaufe an schon Getauften kommt nur vereinzelt vor und ist von solcher im Allgemeinen nicht die Rede, um so mehr aber von der Geistestaufe, ohne welche die Kindertaufe nichts nütze sei. In ihren Anklagen gegen die Lutherische Kirche nimmt immer der Mangel an Kirchenzucht in derselben die erste Stelle ein. So heißt es in einem Schreiben der „Brüder" zu Karamyschewka an das Consistorium d. d. 17. Febr. 1865: „In unfern (Lutherischen) Gemeinden findet keine Kirchenzucht statt. An den Kirchweihfesten finden sich nicht allein Spiel- und Saufgelage, sondern offenbare Musik- und Tanzhäuser, wo bis drei Tage lang getanzt wird, gesoffen und was noch sonst heidnische Laster getrieben werden; ebenso gehts auch bei Verlobungen und Copulationen zu, und kurz nach diesen offenbaren Ausbrüchen der Sünde wird solchen Menschen wieder das heil. Abendmahl gegeben von den Pastoren, ohne daß ein Ausschluß dabei vorgehe. Solches ist gegen die Lehre des Heilands und der Apostel; wir wußten uns nicht anders zu helfen, wir sind ausgetreten und halten Abendmahl in unfern Häusern." Von andern kirchlichen Handlungen, als Taufe, Trauung und Beerdigung, sprechen diese Leute hier nicht.

Die kirchliche Oberbehörde hat sich nun gegen die Colonial-Verwaltung dahin ausgesprochen, daß es ihrer Meinung nach nicht gerathen sein dürfte, die Sectirer mit Gewalt zum Gehorsam gegen die Vorschriften der Luther. Kirche anzuhalten. Man möge die von den „Brüdern" vollzogenen Taufen, Trauungen und Beerdigungen von der weltlichen Obrigkeit registriren lassen und ruhig warten, bis die Verirrten zur Besinnung kämen.

   
Zuletzt geändert am 25 Mai, 2018