Ein Besuch von Quaekern in Chortitza 1819

Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung

Zeitschrift: "The Friend" A Religious and Literary Journal of the Quaker Organization, Seiten189-190. Philadelphia, Vol. III, 1830.Artikel: Auszuege aus dem "Reisebericht in Russland" von Steven Grellet und William Allen.

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Ein Besuch von Quaekern in Chortitza 1819
„Einige Berichte von den Kolonien der Mennonisten in Suedrussland, Auszuege von A.M.S.
(Manuskript) von Reisen in jenem Land im Jahre 1819.

Zwischen Ekaterinoslaw in Suedrussland und dem Asowschen Meer sind grosse Ebenen, Steppen genannt, die mit Gras bewachsen sind, aber ohne Baeume oder Straeucher, mehrere hundert Quadratmeilen im Ausmass; der Boden ist an vielen Stellen gut und erscheint schwarz, wenn er aufgebrochen wird, durch verfaulte Pflanzen; die Vielzahl von Pflanzen, Voegeln und verschiedenen Tieren wuerde einem Naturwissenschaftler, der Zeit fuer diese Beschaeftigung haette, eine reiche Ernte bieten. Dieser Bezirk war frueher im Besitz von nomadischen Tataren; als er in russischen Besitz gelangte, hatte er sehr wenig Einwohner, bis der verstorbene Kaiser Alexander verschiedene Kolonien dort
ansiedelte und den Einwohnern besondere Privilegien gab; einige dieser Kolonien bestehen aus Deutschen, andere aus einigen der Einwohner von Smolensk, die gelitten hatten, als die Stadt im Feldzug von 1812 zum Teil von den Franzosen zerstoert wurde. Einige bestehen aus einer Reihe von Menschen, die von der griechischen Kirche abgingen, die gewaltsam verfolgt wurden, bis der Kaiser Alexander sie unter seinen Schutz nahm und sie auf jener weiten Ebene ansiedelte. Es gibt sechs verschiedene Arten von Kolonien, aber die bemerkenswertesten und am besten gedeihenden sind jene der Mennonisten, die aus der Nachbarschaft von Danzig in Preussen kamen; diese Klasse von Christen stimmt mit der Gesellschaft der Freunde darin ueberein, dass sie glauben, dass Krieg nicht mit dem Geist christlicher Naechstenliebe zu vereinbaren ist, und infolgedessen verweigern sie das Tragen von Waffen
aus Gewissensgruenden; dies in einem Land, wo jeder Mann angeblich zum Soldaten geboren wurde, setzte
sie natuerlich der Verfolgung aus, und selbst, wenn es die preussische Regierung fuer angebracht gehalten haette, ihren religioesen Skrupeln nachzugeben und ihnen Wehrdienstfreiheit zu gewaehren, haette der Aufruhr der uebrigen Einwohner ihre Situation sehr schmerzlich gemacht. Der Kaiser Alexander sicherte ihnen mit dem Zartgefuehl, fuer das er bekannt war, die freie Ausuebung ihrer Religion zu und gewaehrte ihnen ausserdem besondere Privilegien. Ihr spaeteres Verhalten hat die Meinung, die er von ihrer Redlichkeit hatte, voll gerechtfertigt, und er freute sich bis zum Zeitpunkt seines beklagenswerten Todes, Zeuge ihres Erfolgs zu sein. . .
. . . Ein vierjaehriger Kirschbaum kostete 20 Kopeken, ein Apfelbaum 50 Kopeken, Pfirsichbaeume
60 bis 70 Kopeken. Sie machen Versuche mit kuenstlichen Graesern und der Garten scheint gut zu gedeihen. Wir machten uns von Ekaterinoslaw in Begleitung des Gouverneurs des Bezirks* auf den Weg, der die Kolonien besuchen wollte, und kamen auf die Steppe, wo bis zum Rande des Horizonts kaum etwas anderes als Gras und Himmel zu sehen ist; wir sahen jedoch eine Reihe von Erhebungen mit einer Hoehe von 20 bis 30 Fuss, die dem aehnelten, was in England Huegelgrab genannt wird. In einigen von ihnen sind Knochen und Ruestungen gefunden worden, und man nimmt an, dass es die groben Monumente der Nomaden sind, die dieses Land frueher bewohnten, und dass sie je nach dem Rang des dort begrabenen Anfuehrers hoeher oder niedriger sind; nach einer Reise von etwa 30 Meilen kamen wir in Neuenburg an, der ersten Kolonie der Mennonisten; sie bestand aus vierzehn Familien; sie haben ueber 500 Schafe und Laemmer, die eine Mischung von Merinoschafen sind; sie zahlen nur einige Kopeken per Acre an die Krone und muessen die Strassen und Bruecken in Stand halten; diejenigen, die fleissig sind, werden reich, da der Boden ausgezeichnet ist; sie aehneln der Gesellschaft der Freunde, indem sie ihren Predigern kein Gahalt zahlen, und man kann ihren Bischof hinter seinem eigenen Pflug finden, und er ist an seiner Kleidung nicht von den uebrigen seiner Brueder zu unterscheiden. Mein Reisegefaehrte und ich waren in einer 'bretschka' (Wagen), wir hatten das Gefaehrt in Moskau gekauft; es ist eine lange, offene Kutsche auf vier Raedern, mit einem Vorderteil wie ein englisches Gefaehrt mit einem Pferd; unser Gepaeck wurde unter uns verstaut, und darauf wurden unsere Matratzen gelegt. Der Gouverneur reiste in seiner deutschen Kutsche, indem er abwechselnd den einen oder anderen von uns mitnahm; von Neuenburg an reisten wir mit vier Pferden weiter, nicht nebeneinander, wie nach der russischen Weise, sondern jeweils zwei hintereinander, und mit einem Knaben als Kutscher. Bald zeigte sich ein grosses Gebiet von kultiviertem Land und das Dorf Chortitz vor uns; es ist das Hauptdorf der Kolonie Chortitz und besteht aus 39 mennonistischen Familien; die Kolonie hat 15 derartige Doerfer. Diese respektablen Menschen kamen vor etwa 30 Jahren von Preussen und waren 331 Familien, haben sich jetzt aber auf fast 600 vergroessert; sie haben 36.000 Quadratdesjatinen Land oder 99.000 englische Quadrat-Acre; jede Familie hat 65 Quadratdesjatinen, aber die Mennonisten haben 5 Desjatinen mehr als alle anderen Kolonisten, die 60 Desjatinen haben; sie zahlen alle nur 15 Kopeken pro Desjatine im Jahr an die Regierung.
Es sind zwei Bischoefe oder Älteste in der Kolonie, die die niedrigeren Geistlichen durch Autlegen der Haende ordinieren; sie taufen erst etwa um das Alter von 17 Jahren und erst, wenn der junge Mensch sich bei einer Pruefung als dazu tauglich erweist. Die Haeuser sind sehr bequem, sind aus Holz gebaut und ordentlich gedeckt und bilden einen starken Gegensatz zu den ueblichen russischen Huetten. Sie sind im grossen und ganzen nach niederlaendischer Weise gebaut, mit dem Giebel zur Strasse und der Tuer an der Seite; sie haben geraeumige Staelle und Getreidespeicher. Wir wurden im Haus des Buergermeister des Bezirks aeusserst freundlich bewirtet und wurden vom Bischof besucht; er trug die unter den Kolonisten uebliche Kleidung und trug nicht das geringste Merkmal zur Unterscheidung; er machte einen bemerkenswert gelassenen Eindruck, und als er davon informiert wurde, dass wir mit ihnen an ihrer gewoehnlichen Andachtsstaette eine religioese Versammlung wuenschten, kam man ueberein, eine solche am naechsten Morgen um 9 Uhr abzuhalten. Als wir uns dorthin begaben, war der Hof um das Gebaeude von Wagen und Pferden besetzt, und viele der Kolonisten waren aus einer Entfernung von sieben oder acht Werst gekommen (ein Werst entspricht einer Dreiviertelmeile), und ich glaube, es waren von den meisten, wenn nicht von allen Doerfern einige gekommen. Bei Eintreten in das Haus fanden wir sie beim Singen eines Psalms nach ihrer Sitte. Der Bischof und andere stellten uns vor, und als der Gesang zu Ende war, erklaerte er ihnen auf deutsch, wer wir waren, und das Ziel unserer Reise, und rief sie dann zum Gebet auf; sie knieten alle nieder, sprachen aber kein Wort, da sie, wie wir unterrichtet wurden, bei diesen Anlaessen stets still beteten. Mein Gefaehrte, der ein Angehoeriger der Gesellschaft der Freunde war, sprach in franzoesischer Sprache zu ihnen, was Satz fuer Staz vom Gouverneur ins Deutsche uebersetzt wurde und von bemerkenswertem Ernst begleitet war. Die Menschen erschienen sehr beeindruckt und einige von ihnen hatten Traenen in den Augen; zum Abschluss ihrer religioesen Versammlungen knieen wieder alle zu stillem Gebet nieder.
Sie haben einen Schulmeister und die meisten, falls nicht alle der Kinder koennen lesen und lernen die russische
Sprache wie auch die deutsche Sprache. Der Gouverneur zeigte uns die Baumschule und Herden von Merinoschafen. Er hat sie dazu veranlasst, ihre Gaerten zu vergroessern, Obstbaeume zu pflanzsen usw., und die
Verbesserungen, die sie machen, sind wahrhaft entzueckend — sie haben Tausende von Maulbeerbaeumen,
auch Apfelbaeume, Birnen, Kirschen usw., und beginnen Weintrauben anzupflanzen, und es sieht aus, als werden sie Erfolg haben. Eine merkwuerdige Art von Zwergpfirsich scheint einheimisch zu sein, die Frucht ist nicht groesser also eine Erbse, doch vollkommen in der Form; der ganze Baum ist nur fuenf oder sechs Zoll gross, die Blaetter, obwohl sehr klein, aehneln dem gewoehnlichen Pfirsichblatt vollkommen. Der Haupthirte der Herden schien ein sehr kluger Mann zu sein; erhaelt einen Lohn von 1200 Rubeln per Jahr.
Vor zwoelf Jahren gab ihnen der Kaiser 28 Paare von Merinoschafen; sie haben sich in der Zwischenzeit so
vermehrt, dass wir eine Herde mit 100 Widdern sahen, reinrassige Merinoschafe; diese Widder produzieren
mit den russischen Schafen eine Art. deren Pelz bedeutend besser ist; sie werden Metise genannt, und wenn
sie gut versorgt werden, koennen die Nachkommen in der fuenften Generation nicht von reinrassigen Merinos
unterschieden werden.
Von Chortitza schickten wir unsere Kutschen auf direktem Weg voran, aber dem Gouverneur gelang es, durch Mieten von zwei kleinen Karren und Durchfahren eines Gewaessers die Reise betraechtlich zu verkuerzen und uns auch die Gelegenheit zu geben, die Insel Chortitza zu besuchen, die im Dnjepr gelegen ist. Ich fuhr mit dem Gouverneur in einem Karren und mein Gefaehrte mit dem Assessor der Kolonie im anderen; da der Fluss ueber die Ufer getreten war und viel Land bedeckte, mussten wir durch viel Wasser hindurch und kamen schliesslich zu einem Arm des Flusses, an dessen einer Seite grosse Granitfelsen waren, etwa dreissig Fluss hoch; es sind auch Felsen auf der anderen Seite, welche mit den Baeumen (denn es gibt einige in dieser Gegend) und der Umgebung eine herrliche Landschaft bilden. Die Insel ist neun Werst lang und fuenf Werst breit und umfasste ein Dorf der Mennonistenkolonien. Wir fuhren quer ueber das eine Ende und kamen zur Strasse am Hauptteil des Flusses. Der fromme Pastor holte uns mit einem kleinen Gespann von der Landestelle ab; wir waren beide von seinem milden und
schlichten Anblick beeindruckt, Nach der ersten Begruessung ging es in vollem Tempo los, um seine Frau
von unserem Kommen zu benachrichten; als wir uns der Einfahrt zum Haus naeherten, fanden wir den Pfad mit
Fliederblueten bestreut, die Zimmer waren auch mit Blumen geschmueckt; alles trug die Zeichen von Reinlichkeit
und Bequemlichkeit. Die Herrin des Hauses ist offensichtlich eine sehr tuechtige Frau, und sie hat ihre Kinder selbst Rechnen usw. gelehrt. Sie haben fuenf oder sechs Kinder, von denen einige beinahe erwachsen sind; wir freuten uns, diese wirklich christliche Familie kennenzulernen, mit der wir ein religioeses Gespraech hatten. Der Prediger begleitete uns als Fuehrer nach Schoenwiese, dem naechsten Dorf; wir mussten uns in zwei kleinen Booten ueber den Dnjepr begeben, indem wir sieben oder acht Werst flussabwaerts ruderten. Wir fuhren an Alexandrowsk vorbei, wo frueher eine Art Festung war.
Die russischen Huetten sehen sehr erbaermlich aus, nachdem man die Haeuser der Kolonisten gesehen hat. Obwohl es spaet am Abend war, als wir in dem Dorf eintrafen, hatten wir eine religioese Versammlung mit den Kolonisten; es waren etwa 150 anwesend. Der gute Prediger, der die Leitung hatte, stellte uns in einer deutschen Ansprache der Gemeinde vor, unter der wir eine erbauliche und befriedigende Gelegenheit hatten."

Zuletzt geaendert am 11 Februar 2007.