Dass sich solches niemals wiederholt. 130 Jahre Gruenfeld.
 
Vortrag von Walter Wiebe.
   
  Selenopole heisst Gruenfeld heute. Es liegt in der Ukraine und wurde 1873 durch mennonitische Siedler
gegruendet. Walter Wiebe, langjaehriger Bewohner Cruenfelds, hielt auf einer Feier zum 130-jaehrigen Jubilaeum des Ortes im Sommer 2003 folgende Rede.
   
   
  Geehrte Gruenfelder, geehrte Gaeste!
    Wir sind euch sehr dankbar fuer die Einladung zu diesem Jubilaeum. Man sagt: Wer die Vergangenheit nicht kennt, findet auch nicht den Weg in die Zukunft. In diesem Jahr sind es 60 Jahre, seit wir unsere Doerfer verliessen und hinter uns liessen, was uns lieb und teuer war. Ich erzaehle euch etwas von der Geschichte dieser Doerfer. Das Land um Gruenfeld und Steinfeld wurde einem Landbesitzer namens Schlachtin abgekauft, der durch das Kartenspielen tief in Schulden gestuerzt war. Zu jedem Dorf gehoerten 2000 Hektar Land, also 40 Bauernhoefe zu je 50 ha.
    Nach Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 gerieten viele Gutsbesitzer in eine schwierige Lage, weil sie nun Arbeiter bezahlen mussten. So konnten unsere Vorfahren guenstig Land kaufen. Weil immer erst der juengste in der Familie den Hof erbte, wurde fuer die aelteren Land hinzugekauft; denn als Landloser konnte man nur sein Dasein als Knecht fristen.
    Fuer unsere Vorfahren war es nicht leicht, hier in der wilden Steppe ein neues Leben anzufangen, wo Woelfe und Schakale heulten und Schlangen krochen. Zuallererst brauchte man Wasser. Und genau hier, auf der Stelle, an der wir heute stehen, wurde der erste Brunnen gegraben. Das war der Anfang von Gruenfeld. Die Vorfahren hatten ein Sprichwort ueber das Auswandern und den Neubeginn: Die erste Generation erntet den Tod, die zweite die Not, die dritte das Brot. Das galt auch fuer die Gruenfelder. Viele starben an Krankheiten, Kaelte oder Unterernaehrung. Zu Beginn wohnten sie in Erdhuetten. Was sie schliesslich besassen war schwer erarbeitet. Sie fuehrten musterhafte Betriebe. Sie betrieben Pferdezucht und Schweinezucht, brachten die beruehmte deutsche rote Kuh, spaeter umbenannt in „Rote Steppenkuh". Sie hatten bluehende Gaerten, an den Strassen pflanzten sie Obstbaeume und weisse Akazienbaeume als Honigtraeger.
    Dies alles fuehrte zum Wohlstand. In jenen Zeiten hatten die Wagen der hiesigen deutschen Bauern eiserne Achsen und Raeder, die Wagen der ukrainischen Bauern hoelzerne Achsen und Raeder. Allein in Gruenfeld gab es drei Schmieden. Ausserdem kamen die Zigeuner mit ihren Schmieden. Bald begann die Zeit der Industrialisierung. Windmuehlen und Dampfmuehlen entstanden. Die landwirtschaftliche Maschinenfabrik Froese wurde 1888 gegruendet. Dank all dieser Entwicklungen produzierte die Ukraine im Jahre 1913 zum ersten Mal eine Milliarde Pud (1 Pud = 16kg.) Getreide. Das gelang der Sowjetregierung spaeter nur einmal, trotz besserer technischer Entwicklung und trotz in Felder verwandeltem Weideland. Unsere Vaeter begnuegten sich nicht mit Ochsen als Zugtiere, wie die Ukrainer. Sie benutzten Pferde. Dies war schwieriger, es konnte aber das doppelte Pensum geschafft werden.
    Von den Deutschen in Russland wurden 65 % aller landwirtschaftlichen Maschinen produziert, wie z.B. von der Fabrik Hehn in Odessa, fruehere Fabrik in Kirowograd (Elisowetograd), wo noch heute Pfluege gebaut werden, oder von der frueheren Fabrik Elwarti, die neben anderem Saemaschinen und gefederte Pferdewagen baute. In Chortiza war es zum Beispiel die Fabrik Lepp und Wallmann und andere, wo ebenfalls verschiedene Geraete hergestellt wurden.
    Allein in den mennonitischen Siedlungen im Gebiet um Dnjepropetrowsk wurden 10,5 % aller landwirtschaftlichen Geraete der Ukraine produziert. Gesaet wurde mit Saemaschinen, gemaeht mit Maehmaschinen und gedroschen mit Dreschmaschinen, nicht mehr mit dem Dreschflegel. In Gruenfeld gab es ausser Bauernhoefen zwei Windmuehlen, zwei grosse Dampfmuehlen und eine landwirtschaftliche Maschinenfabrik, in der manchmal bis zu 140 Mann Lohn und Brot fanden. Es gab einen grossen Laden am Dorfende und einen kleineren fuer den taeglichen Bedarf gegenueber der Fabrik, der meinem Grossvater gehoerte und von der ganzen Familie betrieben wurde. Daneben gab es eine Kaeserei, eine Ölmuehle und eine Zuckerfabrik, wo Zuckerrohrsaft ausgepresst und Sirup hergestellt wurde, der damals Zucker ersetzte.
    1875 wurde eine Schule gegruendet. Der Schulhof ist noch heute an derselben Stelle. Auf die Schule wurde achtgegeben und die Lehrer in Ehren gehalten. Denn nur mit Bildung kann man planmaessig und effektiv wirtschaften. Der Unterricht war in deutscher Sprache, aber es wurde auch Russisch gelehrt und Mathematik wurde in Russisch unterrichtet. Ganz zu Beginn wurden die Grundstuecke zwar aufgeteilt, aber noch nicht alle besiedelt. Der Hof meines Grossvaters Jakob Wiebe war mitten im Dorf, aber sein naechster Nachbar war schon am Dorfende. Um gute Haeuser zu bauen benoetigte man Ziegel. Und so entstand eine Ziegelei am Weg nach Gnadenthal bei der kleinen Traenke.
    1929 kam die Kollektivierung. Alles wurde auf einen Haufen getan und gehoerte niemandem mehr. Es war wie in dem beruehmten ukrainischen Gedicht, wo man den Viehhirten zum Fuehrer machte. Tiere verendeten. Schliesslich wurden fleissige, gute Bauern als Kulaken abgestempelt und ebenso nach Sibirien verbannt wie die Prediger und Lehrer. Die meisten von ihnen sind dort umgekommen. In ihren Haeusern wohnten jetzt die sogenannten Proletarier. Ihre Losung lautete: Das Leben ist besser, das Leben ist froehlicher.
    Der Reichtum reichte nur etwa drei Jahre. 1933 starben in der Ukraine bei einer vermeidbaren Hungersnot mehr als sieben Millionen Menschen. An den Folgen der Revolution und des Buergerkrieges 1921 bis 1922 waren sechs Millionen Menschen gestorben. So begann der Krieg gegen das eigene Volk und dauerte sozusagen 70 Jahre. In den Jahren 1937 bis 1938 kam es zu einer neuen Vernichtungswelle, bei der allein in Gruenfeld 118 Menschen vom NKWD verschleppt wurden. Alle galten als „Volksfeinde", niemand kam zurueck. Ihren Kindern wurde verboten zu studieren. Die bereits studierten, wurden von der Universitaet entfernt. Sogar die handwerklichen Schulen (Schlosser, Tischler...) waren fuer die Kinder der „Volksfeinde" verboten. Als 1937 und 1938 alle Maenner verschleppt waren, kam die Reihe an die Frauen und Kinder. Das Jahr 1941 brachte den Krieg mit Deutschland und wir waren wieder an allem schuld. Die wenigen uebriggebliebenen Maenner wurden in die Trudarmee (Arbeitsarmee) eingezogen. Sie hatten es teilweise schlechter als Kriminelle.
    1943 verliessen wir auf Befehl der Deutschen Armee unsere Heimat. Unsere Doerfer wurden evakuiert in den Westen, den Warthegau. Als die Sowjetarmee dort einmarschierte, wurden wir nach Russland verschleppt. Wir kamen jedoch nicht in die alte Heimat, wie versprochen. Die sahen wir nicht wieder. Statt dessen brachte man uns in den Nordural, nach Kasachstan und andere Verbannungsorte. Wir standen unter strenger Aufsicht der Kommandantur und hatten nicht einmal das Recht, Verwandte im Nachbardorf zu besuchen. Fuer das Singen eines deutschen Volksliedes konnte man zum Tod durch Erschiessen verurteilt werden, auch wenn das meist in 25 Jahre Haft umgewandelt wurde.
    Die Menschheit muss es wissen. Ich wuensche, dass sich solches niemals wiederholt. Die unschuldigen Opfer haben es verdient, dass wir uns an sie erinnern. Sie waren keine Helden. Trotzdem sollen sie nicht vergessen werden. Wenn wir sie nicht wuerdigen, haben auch wir nicht verdient gewuerdigt zu werden.
     
    Walter Wiebe, langjaehriger Bewohner Cruenfelds, lebt derzeit in Neuwied.
     
    Nach der Gruendung 1873 ging die Geschichte ueber das Dorf Gruenfeld/Selenopole. Seine Bewohner gerieten in die Wirren der russischen Revolution und des Zweiten Weltkrieges. Einer von ihnen, Walter Wiebe, heute in Neuwied zu Hause, kam ueber mancherlei Umwege nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in das Dorf und lebte dort bis in die 90er Jahre. Vor seiner Ausreise konnte durch seine Vermittlung die ehemalige Mennonitenkirche von Gruenfeld, zwischenzeitlich als Scheune oder Kasino zweckentfremdet, der ukrainisch-orthodoxen Kirche als Gotteshaus uebergeben werden. Wiebe faehrt regelmaessig hin und hat einen lebhaften Kontakt zu den heutigen Bewohnern und ihrer Verwaltung aufgebaut. Vor einigen Jahren hat er eine Gedenktafel in der Kirche angebracht zum Andenken an die Toten.
    Nun stand ein Jubilaeum an. Kein rundes, zugegeben, aber vor 5 Jahren (125 Jahre) war man nicht so weit, und bis 150 wollte man nicht warten. So feierte man das Fest, wie es fiel. Zusammen mit einem Gruenfelder Freund, Cornelius Neudorf aus Bielefeld, organisierte Walter Wiebe in Absprache mit der Verwaltung die Veranstaltung im Sommer 2003. Man verband es mit den Feiern zum zwoelften Jahrestag der Unabhaengigkeit der Ukraine. Neudorf und Wiebe waren Ehrengaeste.
    Das Fest begann mit einem orthodoxen Gottesdienst in der Kirche, wo man auch der Toten gedachte. Dann ging es unter der Weite des ukrainischen Himmels im Freien weiter. Viele Menschen nahmen teil. Alle Repraesentanten aus der Umgebung waren gekommen. Walter Wiebe und Cornelius Neudorf enthuellten eine Tafel, auf der in ukrainischer Sprache folgender Text steht:
    "1873 siedelten hier Mennoniten hollaendischer und deutscher Herkunft. Ihre Nachkommen wohnten hier bis 1943. Auf dem Friedhof ruhen viele von ihnen in Graebern, die man nicht mehr alle sieht. Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Guete ist wie eine Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit.
   
Errichtet von Verwandten und Freunden im Jahre 2003."
     
       
Zuletzt geaendert
     
am 15 November 2009