Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" 1925 in 10 Teilen

 

Abgeschrieben von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 1 vom 4. März 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" 4. März 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

Langsam, für einen Europäer viel zu langsam, bewegt sich die große Karavane vorwärts, durch die scheinbar endlose Wüste Kara – Kum (Schwarzer Sand) in Mittelasien. Dem Morgenländer kommt es gar nicht so langsam vor, diese Art hat immer Zeit und Geduld. „Allah ist groß und allbarmherzig!“ Er hat der Tage viel. Und der Himmel bleibt. Eilen ist des Teufels.
Asiatisches Uebermaß an Geduld und europäisches übertriebenes Hasten zusammengespannt, ziehen schwer die Last. „Geduld ist euch not!“ nach dem Rezept des Apostels Paulus hatte ich nur eine größere Anzahl Pülverchen anrichten lassen, als ich bald nach einer Reise mit Blitzzügen in Luxuswagen durch moderne Staaten Europas eine Reise nach dem patriarchalischen Mittelasien antrat.
Ich wandte die Pülverchen oft mit Erfolg an. Oft aber wollten sie nicht anschlagen. Die Ursachen des Mißerfolges lagen scheinbar auf meiner Seite. Die Karavanentreiber taten was sie konnten. So schwuren sie es mir wenigstens beim Barte der Propheten. Das mußte gelten. So sagte ich mir dann mit Fritz Reuter: Wea deit,waut he deit, die kaun nich mea done, aus hei deit. (Wer macht was er macht, der kann nicht mehr machen, was er macht. (plattdeutsch) – E.K.) Die Güte der Mixtur? Die werden in erstklassiger Apotheke von einem ersklassigen Waren zusammengesetzt. Sie mußte also gut sein. So blieb nur noch eine Möglichkeit als Ursache des Mißerfolges bestehen: Ich selbst.
„Mullah“, ließ der Karavanbasch (Führer) mir durch den Dolmetscher sagen, „Mullah, Allah ist groß und allbarmherzig! Unser Erzvater Abraham mußte hundert Jahre warten, ehe ihm ein Sohn geboren wurde. Und siehe heute seine Nachkommen. Davider konnte ich nicht viel einwenden.“ „Gut! Der war der Erzvater Abraham. Allah lasse den Mann dafür im Paradiese unter Palmen wandeln, wie sie nicht schöner im Reich Arabien zu finden sind. Was aber hat Vater Abraham mit eurer „langsamen Art“ zu tun? Aida! Vorwärts!“
„Du mußt dem Kerl einmal ein paar tüchtige Rippenstöße versetzen, wie es die russischen Officiere machten, dann wird er schneller treiben,“ raunt mit der Dolmetscher ins Ohr. Das wollte ich abe nicht tun.
„Hoijt! Hoiht!“ ruft der Führer seinen Tieren zu, um mich zu befriedigen. Die Tiere kennen seinen Ton recht gut und setzen ihren gemessenen Schritt fort.
„Zeit und Sand. In der Wüste muß man sich immer Zeit nehmen. Doch Allah ist groß und allbarmherzig. Wir sind noch immer wieder hindurchgekommen,“ läßt der Führer mir zurufen.
Also Geduld. Das Unvermeidliche mit Würde tragen. Die Menge der verschiedenen Bilder am Wege vetrieb bald wieder die Ungeduld.
Das war auf dem Wege zwischen Tschartschuj und Chiva, einer Strecke von vielleicht 500 Kilometer, die Luftlinie gerechnet. Tschartschuj eine größ. Station d. Krasnowodsk – Taschkent, neben dem gleichnamigen Städtchen im Emirat Buchara gelegen, war der Ausgangspunkt der Karavannenreise; Chiva, ein Chanat auf der linken Seite des Amudaria – Flusses, an der Mündung desselben in den Aralsee, war unserer Reise Ziel. Buchara und Chiva waren Fürstentümer, die nach althergebrachten Formen von despotischen Herrschern regiert wurden. Sie standen unter Protektorat der russischen Regierung. Nach der großen Revolution om Jahre 1917 wuden beide Fürstentümer in Schein – Republiken umgestaltet, und heute bilden sie Teile der „R.S.F.S.R.“ (Russischen Sozialen Föderation Sowjet Republik).
Die heutige Republik Chiva wird gebildet aus einer Anzahl zusammenhängender kleineren und größeren Oasen. Sie hat die Form eines Dreiecks. Ihre Grenzen sind: Im Norden der Aralsee, im Osten der Amu – Fluß. Im Süd-Westen die große Wüste Kara – Kum. Es gibt meherere Wege, die von den Stationen der Krasnowodsk – Taschkenter und Orenburg – Taschkenter Bahnen nach Chiva führen. Der bevorzugste dieser Wege ist mit den Schiffen von Tschardschuj auf dem Amuflusse. Doch dieser Weg ist nur von Mai bis August offen. Der Amu erhält sein Wasser nur aus dem Hochgebierge Mittelasiens. Da im September Monat im Gebirge der Winter schon ein starkes Regiment führt, so ist unten bald Wassermangel, und die Schiffahrt muß eingestellt werden. Die Fahrt mit dem Schiffe von Tschardschuj bis Chiva kann man in 5-18 Tagen zurücklegen. Der Fluß geht durch lockeren Boden, so daß das Wasser viel Sand mit sich führt. Dadurch wird das Fahrwasser oft verlegt. Manchmal über Nacht. Für die Nacht muß die Fahrt immer unterbrochen werden, da sonst das Schiff leicht auflaufen kann. Da sucht man schon vor Sonnenuntergang nach einer passenden Anlegestelle. Doch kommt es vor, daß das Schiff über Nacht von Sandbänken umkreist wird. Dann nimmt es Tage, es wieder flott zu machen. Daher die unbestimmte Reisezeit.
Die andern Wege sind Karavanenwege. Diese werden nur von September bis Mai benutzt. Die große Hitze und Sandstürme im Sommer erschweren das Reisen durch die Wüste, ja machen es oft ganz unmöglich. Die gewöhlichen Karavanenwege sind: Von Tschardschuj längs dem Amu-Darja, und von Kasalinsk (an der Orenburg – Taschkenter Bahn). Alle diese Wege führen durch weite Wüsten, die Chiva von der großen Welt ringsherum scharf trennen.
Die Hauptstadt des Ländchen heißt ebenfalls Chiva. Sie liegt an einem der größten Bewässerungsgräben, die oft weit ins Land hinein geführt sind. Dann gibt es in Chiva noch eine Anzahl größerer und kleinerer Städtchen und Ortschaften. Die Landbevölkerung wohnt längs der vielen Bewässerungsgräben, die  sich in immer kleinere und kleinere Gräben und Rinnen weit und breit verzweigen. Dazwischen – Sand und Sand.
Die Bevölkerungsziffer in Chiva kann vielleicht 1 ½ Millionen betragen: Sarten (90 Prozent), Jamuden, Tataren, vereinzelt Russen, hin und wieder andere asiatische Völkerschaften als Kirgiesen, Perser, Afgahnen, Pekkiner, Israeliten (vom Zehn stämmereich). Die Asiaten sind in Religion Mohammedaner – nicht besonders fanatisch.
Die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung ist Ackerbau. Die wenigen Nomadengruppen, meistens im Deltagebiet des Amu, treiben Viehzucht. Auch wird etwas Handel und Gewerbe getrieben. Gesät und gepflanzt werden: Weizen, Gerste, Reis, Baumwolle, Erbsen, Klee und etwas gemüse. Es gedeihen Trauben, Aprikosen, Maulbeeren. Doch in Gartenbau wird wenig getan. Man zieht Pferde, Kühe, Schafe, Kamele und Esel.
Die Hauptindustrie bildet die Teppichweberei, von Frauen daheim betrieben. Die Bevölkerung ist durchschnittlich arm. Die Beamten saugen den Ackersmann systematisch aus. Die Steuern lasten schwer auf dem Bauer. Die Art der Bearbeitung des Bodens ist wie vor 200 Jahren, zu Zeiten des Erzvaters Abrahams, der hoch verehrt wird. So sind auch Sitten und Gebräuche im Laufe der vielen Jahrhunderte dieselben geblieben. Die Tradition und Religion werden einer Republik, wie sie im Gehirn eines Volkskommissars schwirrt, wohl kaum leicht Eingang gewähren, und es wird wohl im besten Fall eine nominelle Republik bleiben. Der herrschenden Partei, die sich aus blinden Fanatikern und Utopisten und absichtlichen Schiwndlern zusammensetzt, wird dieser Umstand auch wenig Kopfzerbrechungen verursachen. Sie herrscht, und das genügt ihr.
Es hat eine Zeit gegeben, wo die Herrscher von Chiva die Grenzen ihres Landes nach Süden bis an den Indischen Ozean, nach Osten bis in China hinein, nach Westen und und Norden weit in die Steppen vorgeschoben hatten. Damals war Chiva reich und das Wort der Herrscher hatte Geltung, als vom Himmel geredet, und vor ihrer Macht zitterten die Feinde.
Einer der ältesten Geschichtsschreiber, Heredot, berichtet, daß östlich von Kaspisee, wo sich heute die Wüste Kara-Kum ausbreitet, ein reiches Land gewesen ist, genannt Grykanien.Um seines Reichtums und seiner Herrlichkeit wegen, haben es selbst die Götter beneidet, und der Neid der Götter war des LandesUrteil. Es fiel und wurde klein und arm. So starben Städte, ganze Länder starben, und Sand und Staub bedeckten weit das Land. Der Reisende sieht dort oft mehrere Tagereisen von Oasen entfernt, Trümmerfelder und Ruinen von Städten und Festungen. Bewässerungsanlagen, zum größten Teil mit Sand bedeckt. Aus den Ruinen heulen dem müden Wanderer hungrige Schakale an.

(Fortsetzung folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 2 vom 11. März 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" 11. März 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Fortsetzung)
„Es war einmal... Du Menschenkind von gestern und morgen vielleicht schon nicht mehr unter den Lebenden, merke: Der Mensch dichtet laut und muß von hinnen. Gott der Herr läßt dichten und bauen, doch wenn der Wind darüber fährt, so ist`s bald dahin. Bauen hat seine Zeit, Brechen hat seine Zeit. Wohl dem, der af den Herrn bauet und des Stärke Gott ist!“ so vernimmt eine Stimme der sinnende Pilger.
Das einst starke und große Reich ist heute zusammengeschrumpft wie eine Feige im Sonnenbrand. Hungrige  Vöglein  picken aus der trockenen Feige die wenigen noch gebliebenen Körnlein.
Ist es seiner Bosheit schuld, daß das Land so heruntergekommen ist? Sind es Naturkräfte, die an seinem Sterbehemd mitweben? Oder brachten jüngere, stärkere, auf die Bühne tretende Völker dem alten im Fett geil gewordenen Reiche den Untergang? So fragt nun der sinnige Reisende weiter beim Nachdenken über das Einst und Jetzt des Landes. Und seine Gedanken springen weiter: Sie stehen bei dem Jetzt der Reiche Europas, und unwillkührlich ersteht die Frage: Ob sie ihren Höhepunkt erreicht haben? Und ihr Einst in Vergangenheit und Zukunft?
Weit ziehen sich die Bewässerungskanäle vom Flusse aus in das Land, sich in immer kleinere und kleinere Gräben und Rinnen verzweigend. Im Frühling, gewöhnlich Ende April, werden die Hauptkanäle am Ausgang aus dem Flusse geöffnet, und das Wasser, daß der große Fluß viele, viele Meilen weit herträgt, durchzieht das dichte Bewässerungnetz, rieselt über die trockenen Felder und zaubert im Verein mit der warmen Sonne in kurzer Zeit saftiges Grün und blühende Bäume hervor. Von der Vogelschau müßte sich das ganze Land wie ein mächtiger, im Frühling geschmückter Baum ausnehmen, in welchem die dunkeln Wohnungen der Menschen mit Vogelnester zu vergleichen wären.
Jede Handbreit Land müssen sich die Leute mit großer Mühe der Wüste abringen, und wenn abgerungen gegen sie verteidigen. Es ist ein stetiger Kampf des Menschen mit der Wüste, die immer wieder versucht, ihre Vorposten, die Sandhühel, auf die von den Menschen bearbeiteten Flächen hinaufzuschieben, um das bischen Kultur zu vernichten. Doch immer wieder rafft sich der sonst sich leicht dem Schicksal ergebende Sarte auf, um den hartneckigen Feind, die Wüste, zurückzuschlagen. Nicht so bald kämpft ein Moslemin gegen das Schicksal an. Doch der Kampf uns Dasein, der Kampf uns Stück Brot, bringt schließlich auch den strengsten Fatalisten aus seiner Stellung.
In Chiva, diesem von der großen Welt entfernten Ländchen, befinden sich eine kleine Kolonie Mennoniten. Der Name der Kolonie ist Ack – Metschej (Weiße Moschee): Ack – Metscheij liegt ungefähr zenh Kilometer von der Hauptstadt des Ländchens entfernt. Es bildet, so zu sagen, eine Oase für sich selbst. Ack – Metscheij zählt nur wenig Einwohner. Die 25-30 Familien, die dort wohnen, haben vielleicht etwas über hundert Seelen.
Diese mennonitische Kolonie war das eigentliche Ziel meiner Reise. (Doch über die Kolonie berichte ich später. Vorerst will ich noch etwas von der Reise durch die Wüsten und Oasen bringen.)
Die Sonne setzt sich wie ein großer Feuerball am westlichen Rande der Wüste. Dort weit von hier, wo die Wüste  und der Himmel sich berühren. Sie geht zur Ruhe. Am östlichen Rande der Wüste erhebt sich die dunkele Nacht. Sie schreitet eilig herauf. Wir aber sind noch lange nicht am Ziele, in der Herberge.
Wie immer, so geht`s auch jetzt nur langsam vorwärts. Um uns nur Sand und Sand.....
Die Herberge soll nicht mehr ferne sein, so beteuert es mein Führer beim Barte der Propheten. Sein treuherzig dummes Gesicht sagt mir, daß er glaubt, was er sagt. So frage ich nicht weiter. „Hoijt! Hoijt!“ treibt er seine Tiere an.
Ein wundervoller Abend senkt sich auf die Wüste nieder. Ich steige von der Arba (ein hoher zweirädiger Katten) und gehe nebenher. Schwer schleppt sich die Karavane durch den tiefen Flugsand weiter. Bald habe ich sie hinter mir gelassen. Ich besteige eine Sandhügel u. beobachte den herrlichen Sonnenuntergang. Der ganze Westen, etwas in Dunst gehüllt, ist rot wie Glut, die sich immer höher und höher am Horizont hinaufschiebt. Der gelbe Sand unten entspricht der Färbung oben, und bald brennt der ganze Westen.
„Und der Herr redet zu mir aus dem Feuer....“
Nun verschwindet das Feuer hinter dem Wüstenrand. Es verschwindet auffalend schnell, und es ist Nacht. Mir aber bleibt der herrliche Sternenhimmel mit seinen tausend und abertausend Lichtlein, durch welche mir das Licht das mir kurz vorher so hell geleuchtet, zuwinkt: Glaub`und vertrau!
Die Karawane kommt heran.  Ich besteige wieder meinen Rennwagen, und im Schneckenschritt geht`s weiter.
Irgendwo hinten im Zuge erzählt ein Mitreisender eine Geschichte. Die reine Abendluft trägt die monoton hingesprochenen, eigenartigen Laute nach allen Richtungen. Auf ihren Wegen gelangen die Töne auch an die Antenna unter den großen Fellmüße meines Arbakesch (Fuhrmann). Nach jedem langen Satze des Erzählers setzt mein Fuhrmann den Punkt, indem er als Zeichen, daß er verstanden hat, einen sonderbaren, nasalen Laut ausstößt: „A-a-a--!“
Nach einer Weile vertauschen sie die Rollen: Der Funker wird Antenna und umgekehrt. Es wird weiter erzählt. Ich frage später nach dem Inhalt des interessanten Gespräches. Sie sind in Tschardschuj im Kinotheater gewesen. Das Gesehene bietet viel Stoff für lange Zeit.
Nun umgibt uns stille Nacht. Nur ab und zuhört man das Schnauben eines Pferdes.
Ich träumte etwas. Da erscholl melodisches Geläute irgendwo in der Ferne. Hörte ich es im Traum? Woher das milde Glockengeläute in der asiatischen Wüste?
Wie wenn von einem Kirchturm in Holland der Vorübergehende zur Andacht gerufen wurde. Doch nein! Ich war nun vollkommen wach. Ich saß in meiner Kibitka und fuhr durch die Wüste Kara – Kum. Das Geläute kam näher und näher. Eine entgegenkommende Karawane. Mehrere Kamele trugen eigenartige Schellen und Glocken, die durch den rhytmischen Gang der Tiere einen melodischen Tonsatz hervorbrachten.
Nun waren die Karawanen aneinander. Man machte halt. Die Reisenden versammelten sich, und bald schlugen die Flammen eines Feuerleins in die Höhe, die sich bunt durcheinander lagernder Menschen gespensterhaft beleuchtend. Ein an solche Szenen ungewohntes Auge mußte unwillkührlich Gruseln ins Innere einlassen. Recht wenig vertrauenerweckend sahen die meisten Gestalten bei Tag aus, noch weniger war das der Fall des Nachts, wo sie von den auf- und abzüngelnden Flammen des Lagerfeuers beleuchtet wurden. „Die Räuber.“
Die große Wasserpfeife wurde in Brand gesetzt und ein jeder tat aus derselben ein paar kräftige Züge. Dabei wurden die üblichen Begrüßungsfragen gestellt und beantwortet. Wer? Woher? Wohin? Was? Dann wurde wieder aufgebrochen. Das melodische Läuten verstummte, und tiefe, finstere Wüstenstille umfing uns wieder.  Mensch und Tier sehnten sich nach der Herbergsruhe. Da merkte ich, daß die Tiere anfingen ihre Schritte zu beschleunigen. Sie witterten wohl eine Herberge oder sonst eine Menschenwohnung am Ufer des murmelnden Flusses. So war es. Denn nun verspürte auch mein Geruchsorgan etwas Rauch. Hunde bellten in der Ferne.
Es war 11 Uhr. Wir zogen durch das Tor der Herberge, hart am Ufer des Flusses gelegen. Der Aufseher, ein muskulöser geschwärzter Sarte, im langen Chalat (tradizioneller Mantel – E.K.) und riesiger Fellmütze begrüßte uns. Eine Laterne verbreitete spärliches Licht.
Es wurde laut gesprochen. Pferde und Kamele wurden abgeschirrt und unter ein Schutzdach gebracht, das an der hohen Hofmauer angebaut war. Dann legte man den Tieren Futter vor. Inzwischen hatte der Aufseher das Tor sicher verschlossen und nun musterte er seine Gäste. Als er den Europäer gewahrte, wandte er all seine Aufmerksamkeit diesem zu. Es war wohl weniger angeborenen Art, als beigebrachtes Muß, die ihn so höflich machten.

(Fortsetzung folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 3 vom 18. März 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" 18. März 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Fortsetzung.)
Ich ließ mich in das Fremdenzimmer führen und ordnete an, den Ofen zu heizen, bestellte mir etwas Teewasser und schickte mich an, mein Abendbrot zu essen. Der Aufseher war gehorsamster Diener. Als er erfuhr, daß ich kein russischer Beamter war, sondern ein „Mimes“ (Deutscher) und zum Chan in Chiva reiste, wurde sein Benehmen zu allem noch sehr freundlich. Er bediente mich nun nicht aufmerksamer, aber ohne Furcht und Scheu, ausgeflucht zu werden oder gar Rippenstöße zu erhalten.
Nachdem ich mir mein Lager gemacht hatte, legte ich mich zur Ruhe. Der Aufseher wachte. Und Gottes Engel schützten.
Kabakly. Eine alte Festung am Amu-Darja-Fluß. Nun wird sie nur noch als Herberge benutzt. Nur Sand und Sand, bis an die Festungsmauer, und Sand und Sand, so weit das Auge reicht. Die Festung besteht aus zwei Teilen, dem Hof und der eigentlichen Burg. Der Hof ist mit einer Mauer aus Lehmschlag umgeben, die stellenweise schon ganz verfallen ist. Die Burg hat starke Mauern aus gebrannten Ziegelsteinen. Forscher nehmen an, daß diese Ziegelsteine aus der Oase Merw am Murgab-Fluß, ungefähr 600 Kilometer entfernt hergestellt worden sind. Sonst findet man nirgends den entsprechenden Ton. Für diese Annahme sollen auch Form der Ziegel und Bauart der Feste sprechen.
Mein Dolmetscher teilt mir mit: Der gewaltige Ali Aga von Merw wollte sein Land vor den beständigen Ueberfällen vom Norden schützen. Zu diesem Zwecke ließ er an dieser Grenze, weit in die Wüste vorgeschoben, einen Ring von Festungen erbauen, in welchen starke Garnisonen unterhalten wurden. Kabakly ist eine dieser Festungen. Um Kabakly zu bauen, ließ der Chan in Merw Ziegeln streichen, stellte von Merw bis zum Bauort Sklaven auf und ließ die Ziegeln aus Hand hinüberreichen. So wurden die Sklaven auch mit Brot und Früchten, die das Trinkwasser ersetzen, vervolgt. Verhälnismäßig gut erhalten ist das Burgverlies, das aus festem Stein hergestellt ist. Diese Steinblöcke sollen aus Steinbrüchen ungefähr tausend Kilometer von Kabakly entfernt, genommen sein.
Ich erhalte mein Quartier im besten Raum des gewesenen Kerkers. Der Aufseher und mein Dolmetscher unterhalten mich. Eine Schaudergeschichte nach der andern aus längst vergangenen Zeiten wird mir in grellen, lebhaften Farben erzählt, so daß mir der Pilau (Nationalgericht: Reis mit Rosinen und Fleisch) fast nicht munden will. „Das grausame Zeitalter asiatischer Barbarei!“ dachte ich entrüstet, und es überlief mich eine Gänsehaut, trotzdem ich wohl wußte, daß viel Dichtung in den Erzählungen lag. Doch wir haben es erlebt, daß das gegenwärtige Europa jener Zeit nicht nachsteht, selbst die Dichtung hinzugenommen. Ein Timurlenk in seinem Grabe in Samarkand muß sich (wenn solches möglich ist?) auf sein Angesicht legen, ob all der vielen Greuel und Barbarei, die im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verübt werden.
Ein Mekka Pilger im losen, weißen Mantel und weißen Turban ist mit uns. Ungefähr anderthalb Jahre hatte seine Pilgerreise gewährt. Er ist in Ausübung der religiösen Vorschriften sehr genau. Wenn die Gebetszeit naht, und die Umstände es erlauben, ruft er die Gläubigen zur Andacht. In der Burg ist eine zerfallene Gebetsnische. Etliche Koransprüche sind noch erhalten geblieben. Würdig und selbstbewußt stellt der Pilger, der Priester ist, sich vor der Nische auf und verrichtet sein Gebet. Die andern Gläubigen folgen ihm nicht. Sie haben allerlei bei ihren Tieren zu tun. Das verursacht Mißstimmung auf Seiten des Pilgers.
Etwas später fragt mich der Pilger, ob ich auch zu Gott bete. Ich bejahte seine Frage.
Er: „Ihr Christen feiert nun ein großes Fest?“ (Es war zwei Tage vor Weihnachten.)
Ich: „O ja!“
Er: „Du kannst es hier nicht feiern?“
Ich: „O doch!“
Er: „Wie so?“
Ich: „Indem ich mir die Bedeutung des Festes vorführe und auf mich wirken lasse.“
Er: „Ja, euer Hießu (Jesus) war ein großer Prophet.“
Ich: „O ja! Er war der Größte und Herrlichste, der je über diese Erde gegangen ist.“
Er: „Ja, weißt du auch, daß ihm einst die ganze Welt untertan sein soll?“
Ich: „O doch!“
Er: „Aber dann wird er das Reich dem Mohammed übergeben. Allah ill Allah, Mahummed Russel Allah (Gott ist Gott, und Mohammed sein Prophet).“
Ich: „O nein! Es wird einst gesungen werden: Es sind die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus worden, und Er wird regieren.“
Nun war der Pilger für Fortsetzung des Gespräches nicht zu haben.
Es ist überhaupt schwer, mit einem Mohammedaner ein religiöses Gespräch zu führen.
Mohammed will sein Reich gründen auf brutale Gewalt und Verheißung eines sinnlichen Himmels, ohne Wiedergeburt, Versöhnung und Erlösung. Das Bekenntnis zum Mohammemedanismus genügt vollkommen, um dem Himmel zu erwerben.
Die Grundlage des Reiches Gottes ist Liebe, und es besteht in Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem Heiligen Geist. Und in Gottes Reich geht niemand ein, er sei denn neu geboren.
Kein Wunder, daß ein Moslemin sein Gauklerwerk nicht leicht auf den christlichen Himmel vertauscht. Besonders noch, wenn er überall sieht, wie viele Christen (Namenchristen!) mohammedanische Art an sich tragen: „Lustig gelebt u. selig gestorben, heißt dem Teufel d. Rechnung verdorben.“ Sagte da nicht ein hochstehender Mohammedaner, der viel europäische Luft geatmet hatte, im Laufe eines religiösen Gespräches: „Ihr Europäer seid nichts besser als wir. Ihr verurteilt z.B. unsere Vielweiberei. Wenige der Unsern halten sich mehr als ein Weib. Sie sind zu arm, um einen Harm zu unterhalten. Ihr habt nach dem Gesetze nur ein Weib, die Mutter eurer legalen Kinder, und daneben noch unerlaubt viele Weiber. Und der Staat duldet es, daß für diese Weiber große Häuser errichtet werden. Ja, er unterhält solche Häuser selbst. Ich glaubte früher, nur wir wateten in allerlei Schmutz. Ihr Europäer, so habe ich mich später überzeugt, habt davon nicht weniger als wir. Nur habt ihr das alles oft sehr verfeinert und mit allerlei Flitter umhängt.“
Doch wurde eingeräumt: Es gibt ja Christen, die anders sind. Ihr hier in Ak – Metschetj z.B. würdet vor uns in den siebenten Himmel eingehen, wenn ihr dem Mullah nur einmal nachsprechen wolltet: „Allah ill Allah, Mahummed Rassul Allah!“
Als Gast bei Ibrahim Beg. (Beg - Gouverneur).
Ein warmer Dezembertag, und ein milder Südwind strich über die Wüste. Die Sonne hatte schon den größten Teil ihrer Tagesreise zurückgelegt, als wir in Kibla (?) einzogen. Wie alle andern Städte, in jener Gegend, so ist auch Kibla ein schmutziges Nest. Enge, krumme Gäßchen. An beiden Seiten kleine, ärmliche Lehmhütten, dicht aneinander gereiht. Aus den Häusern führt kein Fenster auf die Straßen. Die Straße darf ihre neugierigen oder gar wollustigen Blicke nicht in das Innere der Wohnungen werfen. Manchmal mündet die Straße in einen Markt. Hier kann der Reisende einen kleinen Einblick in den Reichtum des Oertchens tun. Die feilgebotenenWaren und die Käufer bekunden, daß die Bewohner größtenteils arm sind. Am Hauptmarkte, mehr in der Mitte des Städtchens, befindet sich das Schloß des Begs, umgeben von einer hohen und dicken Lehmmauer. Durch ein großes Tor gelangt man in den Hof. In der Mitte des Hofes steht das Schloß, wenn wir es so nennen wollen. Allerlei Nebenbauten rechts und links geben dem Ganzen ein verhälnismäßig stattliches Aussehen. Hinter dem Schlosse befindet sich ein garten, wovon der größte Teil zum Harem gehört. Allerlei Dienerschaft lungert im Hofe herum.
Bei unserer Ankunft saß der Beg mit seinen Freunden in lebhafter Unterhaltung vor dem Tor seiner Residenz. Eine bunte Gesellschaft auf bunten Teppichen. Etliche Diener füllten den Gästendie Wasserpfeifen und reichten ihnen die Teenäpfchen und auf großen Tellern Früchte und Zuckerwerk.
Als mein Arba vorfuhr, und mein Arbakesch mit den Leuten etliche Worte gewechselt hatte, erhob sich die ganze Gesellschaft und begrüßte mich mit über der Magegegend verschränkten Armen, etwas das Haupt neigend: „Salam allaikum!“

(Fortsetzung folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 4 vom 25. März 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" 25. März 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Vortsetzung.)
Nun erteilte  der Beg  den Dienern Befehle. Etliche von Ihnen eilten an eine Arba und halfen mir heruntersteigen. Dann lud man mich ein, auf den Teppichen Platz zu nehmen, und stellte mir Tee und Früchte vor. Meine Sachen wurden in den Hof getragen. Ein Dolmetscher wurde gerufen, und man stellte mir allerlei Fragen. Meine Antworten befriedigten die Gesellschaft, wie ich bemerkte. Das Interesse für den Fremdling wuchs.
„Woher kommst Du? Wohin gehst Du? Warst Du in Moskau? Hast Du den Zaren gesehen? Warst Du in Berlin? Kennst Du die Engländer? Wie gefällt Dir, Du mit Weißheit des Abendlandes Erleuchteter, unser armes, dunkles Chiva?“ So schwirrten die Fragen um mich.
Später führte man mich ins Haus. In einem auf orientalische Art gut eingerichteten Zimmer durfte ich mich breit machen. Der Boden war dick mit Teppichen belegt. In einer Ecke stand eine prächtige Ottomane. In einer andern ein europäischer Sessel, ein Geschenk eines russischen Generals. Auf einem Fenster lag ein großer Koran.
Müde von der Tagereise streckte ich mich auf den Teppichen aus. Der Gastgeber beobachtete meine Bewegungen und nickte mir freundlich zu.
Es wurde das Abendbrot aufgetragen. Ein Diener breitete auf dem Teppich ein großes Tuch aus. Das „Tischtuch.“ Tische kennt man dort nicht. Dann brachte ein anderer Diener das erste Gericht: Suppe und Brot. Die Suppe war in einem großen, irdenen (aus Ton – E.K.) Napf. Das Brot wurde vom Gastgeber in die Suppe gebrockt. Die Löffel fehlten. Als Gast wurde mir der Topf nun zuerst gereicht. Ich sollte den Anfang machen. Wie aber die Sache angreifen, ohne die gewohnten Waffen zu haben. Dann fehlte mir auch das Vertrauen im Gericht: Der Tod im Topf? So lehnte ich ab. Der Beg glaubte, mir nun Anweisung geben zu müssen: Er nahm der Suppentopf in seine Linke, fuhr mutig mit der Rechten in denselben, ergriff den ersten, besten, mit Suppe getränkten Happen und führte ihn an seinen Mund, mich dabei freundlich anblickend, als wollte er sagen: „Schaue auf mich! Wie ich es mache, so mache auch du es.“ Dann warf er den Brocken wieder zurück und ich erhielt den Topf zum zweitenmal. Nun lehnte ich noch entschiedener ab. Da machte  er sich mit einem andern Gast, der mitspeiste, über das Gericht her, und ich hatte ein wahres Vergnügen zuzusehen, wie die Leute asiatisch vornehm aßen. Wie das schmatzte und schlürfte, und schnalzte!
Das zweite Gericht, das nun aufgetragen wurde, fand meinen Beifall: Reis mit Rosinen und ein halber gebrannter Hammel auf einem riesigen Teller. Da es wieder kein Tischgerät gab, so holte ich mir aus meinem Handkoffer einen Löffel und machte mich damit an die Arbeit. Doch meine Partner besaßen mehr Gewandtheit, ohne Waffen. Ich bekam aber trotzdem meinen guten Teil. Als letztes gab es Tee, Früchte und Zuckerwerk. Wo der Europäer während des Mahles oder nach dem Mahle freundlichst dankt, da rülpst der Asiate aus tiefstem Magengrunde auf. So hattea uch ich es bald gelernt.
Nach dem reichen Mahl reichte ein Diener die Wasserpfeife, und es wurde etwas geplaudert. Dann gab ich zu verstehen, daß ich zur Ruhe möchte. „Jakschi!“ (gut.)
Ein Diener mußte mir auf der Ottomane in der Ecke des Zimmers mein Lager richten. Ich zog es vor, meine Kissen und Decken zu nehmen, denn unter den Sarten sollen allerlei Geschlechtskrankheiten sehr verbreitet sein. Es war nicht leicht, meine Wunsch durchzusetzen. Die asiatische Gastfreundschaft durfte so etwas nicht zugestehen.
Als ich meine Bibel aus der Handtasche nahm und einen Abschnitt darin las, wollte der Beg nicht nachstehen. Er ließ sich seine Koran vorlegen und las eine Sura darin. Nachdem er noch meine Hofenträger und etliche andere Sachen bewundert hatte, erteilte er zweien seiner Diener sehr entschieden Befehle und verließ den Raum. Ich warf mich müde auf mein Lager hin. Ein Diener mußte im Zimmer an der Tür Wache stehen. Ein anderer mit Gewehr wurde draußen vor der Tür portiert. Lieb` Wanderer, magst ruhig sein.

Weihnachten in der Wüste.
Am 24. Dezember. Was mir zu Weihnachten fehlte, das fehlte mir alles: Weihnachterwartung und Weihnachtsgelüster; ein lieber Familienkreis und treue Freunde im gemütlichen Heim; ein brennender Weihnachtsbaum und frohe Weihnachtslieder, jubelnde Kinder und dankbare Eltern. Kurz – „Weihnachtszauber!“ Und es fehlte Weinachtsgemeinschaft. Daheim! Dort war das alles in Hülle und Fülle. In der Wüste? Allein mit einer Brust voll Gefühlen und einem Herzen voll Sehnen. Unter Larven die einzig fühlende Brust, zitierte ich.
Doch ich hatte mich getäuscht. Da fängt mein Arbakesch zu singen an, monoton, klagend, wie die weite, weite Wüste um uns. Was der wohl singt? Er besingt, worauf er gerade sein Auge richtet: Er besingt sein Pferd, sein Kamel, die Wagen vor ihm, den Sandhügel, die Sonne, den Fremdling auf seiner Arba. Er denkt an seine Kala (Wohnung) und singt weiter ohne Melodie, heulend, wie der Schakal in der Wüste.
Der so klagend singende Mensch erregt mein tiefstes Mitleid: Wie arm doch die Menschen sind, wo ein Gott sich zu ihnen herabläßt, um sie reich zu machen. Weihnachten! Welche Fülle des Reichtums für die Menschheit ist darin enthalten! Doch die Menschen lieben die Finsternis mehr, als das Licht. Daher die große Armut.
Der Sänger versteht etwas russisch. „Was singst Du?“ frage ich ihn. „Ach, Mullah, mir ist so schwer auf der Brust!“
„Was drückt Dich denn?“
„Ja, ich weiß nicht, Mullah. Es ist ein Unglück, Mensch zu sein.“
Mit anderen Worten: Was ihm fehlte, das fehlte ihm alles. Das Sehnen des menschlichen Herzens nach Ruhe und Frieden.
Nach Gott!
Ich war verlegen. Wie konnte ich dem armen Arbakesch helfen?
Es war bald Mitternacht, als wir die Karavanserei erreichten. Das Fremdenzimmer war äußerst schlecht. Tiefer Staub bedeckten den Fußboden. Ein zerbrochener Tisch, ein invalides Bettgestell, eine größere Blechdose, die den Ofen darstellte, bildeten das Mobilar. In einer Ecke lag etwas Strauch, auf dem etliche Sperlinge dicht zusammengedrängt nächtigten. An der Zimmerdecke aus Linsen hingen ruhende Fledermäuse. Auf dem „Ofen“ konnte man in großen, weißen Buchstaben das Wort: „Nobel“ (in russischer Sprache) lesen. In solchen Blechbüchsen wurde damals von der großen „Oelfirma Nobel“ aus Baku das Brennöl durch die asiatischen Wüsten transportiert. Nobel! Sonst war alles unnobel. Als der Aufseher mich in das so bescheiden ausgestattete Zimmer führte, konnte mein Dolmetscher, der uns begleitete, nicht mehr an sich halten: Ohne Worte zu machen, versetzte er dem verlegenen Aufseher eine tüchtigen Schlag ins Genick. Das sollte wohl bedeuten: „Tue deine Pflicht, so folgt die Strafe nicht!“ Ich beruhigte die beiden Gesellen, eine jeden, wie er es verdiente, und bestellte etliche Teppiche, um ein Nachtlager herzustellen, und Teewasser. Dann holte ich aus meinem Eßkorb allerlei Eßbare heraus, unter welchen sich auch ein kostbarer Weihnachtskuchen befand, wie ihn mir ein liebendes Schwesterherz mit auf den Weg gegeben hatte, und hielt mein Weihnachtsabendmahl. Der Aufseher heizte den Ofen und beobachtete mich und meinen Reichtum an Eßwaren. Ich fühlte unzweideutig, daß er mehr Interesse für das letztere hatte und reichte ihm eins und das andere davon. Nun hatte ich den Mann ganz grwonnen. Wie ein treuer Sklave heizte er die ganze Nacht hindurch den nur schwach wärmenden Ofen. Wie wenig bedarf es oft nur, um einen Menschen zu gewinnen. Etwas Liebe löscht oft ein Meer voll Haß. Die Liebe zieht und erzieht himmelwärts, beide, den, der da liebt, und auch den, dem Liebe entgegengebracht wird.
Unter kläglichem Geheul hungriger Schakale vor dem Tore der Karawanserei las ich mir die alte und ewig neue Geschichte der Weihnacht nach Ev. Lukas, Kapitel zwei. Ich sann darüber nach. Da hörte ich von fernher leise, ganz leise, wundersam herübertönen: „Stille Nacht, Heilige Nacht! Friede und Freude hat Gott uns gebracht.“ Als der Gesang leiser und zuletzt ganz verstummte, befand ich mich im Traumland. Ich sah einen Christbaum, um den lichte Engel schwebten, reichlich Gaben austeilend. Im Vaterhaus. Also doch Weihnachten in der Wüste!

(Forts. folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 5 vom 1. April 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 1. April 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Fortsetzung).

Der Karawannenweg führte uns durch die nördlichste Oase vom Emirat Buchara, auf dem linken Amuufer (Amu-Darja – E.K.), durch weite Sandstrecken vom Reich geternnt. Diese Oase galt als Verbannungsort für bucharische Verbrecher, daher das Sibirien von Buchara genannt. Die wenigsten Verbrecher blieben dort. Sie verließen den Ort sehr bald, und trieben sich als gut organisierte Räuberbanden umher, ein Schrecken der Karawanenreisenden. Kaum daß wir den vorletzten besiedelten Ort des Emirats verlassen hatten, so holten die Männer unserer Karawane ihre Waffen hervor und machten sich für jeden Fall gefechtsbereit. Daß sie ihr Leben nicht billig hingeben wollten, konnte man aus ihren ganzen Benehmen klar sehen. Ich erhielt Befehl, mich ganz in meine Kibitka zurückzuziehen. Die Anwesenheit eines Europäers im Zuge könnte den Appetit der immer raublustigen „Sibirier“ reizen.
Wir mußten im bicharischen Sibirien nächtigen, zogen am andern morgen früh weiter, doch es gab keine Störungen, außer daß unser Karawanenbasch (Karawanenführer) uns des Nachts erkrankte. Er klagte über Magenleiden. Als ich ihn früh des Morgens besuchte, um ihn zum Aufbruch aufzumuntern, wurde der Kranke gerade vom Arzt, den wir glücklicherweise mit uns hatten, behandelt. Dieser Arzt kannte weder Homöopathie noch Allopathie, schien dafür aber viel Gewicht auf asiatische Orthopedie zu legen. Er war ein ausgezeichneter Knetdoktor, wie ich mich alsbald überzeugte. Zuerst legte der Doktor sein unglückliches Opfer auf den Rücken und knetete es mit Händen und Knien eine Art Massage, um die Schweden neidisch werden können. Die verschiedenen Klagetöne, die der Kranke dabei ausstieß, bekundeten, daß das Uebel sehr festsaß und nicht leicht weichen wollte. Dann wurde der Patient mit dem Gesicht nach unten gelegt, und es gab nun noch eine gründliche Rückenmassage. Das Opfer stöhnte wie am Bratspieß. Endlich durfte der Kranke aus der Folter, doch sein Gesicht verriet noch nichts Gutes. Nun trat ich auf. Viel stand mir nicht zur Verfügung, als meine Autorität und ein Brausepulver. Ich zwang ihn, ein Glas starker „Brause“ zu trinken. Mit Todesverachtung leerte er das Gefäß, und es gab neue Qualen. Immer wieder griff er nach seiner Nase, ob die sich noch auf ihrem alten Platze befinde. Doch auch dieser Teil ging vorüber, und der gute Mann war wieder hergestellt. Er ordnete sofort den Aufbruch der Karawane an. Was nun eigentlich die Wandlung zum Bessern hervorgebracht hatte, ob die Massage oder das Pulver, ließ sich schwer bestimmen. So ein tolles Pulver, so äußerte er später, werde er nicht mehr nehmen, wenn es auch gut sei, Seine Wirkung konnte er nicht ganz leugnen.
Wieder zogen wir weiter, durch die eintönige Wüste. Wenn ein Wüstenwanderer nicht wüßte, daß die Wüste irgendwo ein Ende hat und daß seine Reise ihn irgendwo in eine reiche, herrliche Gegegnd brächte, so müßte er verzagen. Doch schon die kleinern und größern Oasen mit ihren Wasserlein, mit ihrem Leben und Treiben, durch die er auf seinem Wege zieht, sind ihm Angeld für den Erfolg seiner Reise, ob nun diese Reise kürzere oder längere Zeit währt. Das erleichtert die Reise bedeutend.
„Nun wir denn gerecht worden sind durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ, durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll.“ „Durch viel Trübsal müssen wir in das Reich Gottes gehen.“ So lesen wir im Worte Gottes über den Weg zum Himmel. Es braucht Sonnenschein und Regentage, wenn ein Baum Früchte tragen soll. Kann denn ein Mensch das Leben ertragen, ohne Schaden an seiner Seele zu erleiden, wenn er der guten Tage zu viele hat? Und andererseits: Kann ein Mensch wirklich gedeihen, ohne Himmelstrost und Himmelshoffmumg?
Ein schwarzer Punkt bewegt sich am Horizont und will unterscheiden, was es sein mag. Da sieht mein Arkabasch weiter. Er erklärt, daß dort eine lange Karawane entgegenkommt. Es vergeht etliche Zeit, und nun sehe auch ich deutlich die Kamele aus dem Meere, denn so spiegelt sich die Luft vor uns, steigen, eins nach dem andern. Der Weg macht dort eine Wendung, und bald habe ich eine lange, lange Reihe vor mir, wie Perlen an der Schnur. Ich zähle: Eins, zwei, drei, fünfzig, hundert, dann höre ich auf zu zählen. Nun zieht die lange Karawane an uns vorüber. Dumm glotzen uns die Kamele an, naiv neugierig die Treiber. Abwechslung in der Einförmigkeit.
„Morgen wirst Du in Ak-Metschetj sein!“ so meldet mir eines Abends mein Dolmetscher.
Am letzten Tage meiner Reise gab es noch einen für mich und für Sarten recht unangenehmen Zwischenfall. Die Karawane war weiter nordwärts gezogen. Ich allein ging von einem Oertchen, dessen Name mir längst entfallen ist, westwärts. Auf der letzten Haltestelle hatte ich ein anderes Gefährt besteigen müssen. Also Waggonwechsel. Ein alter Sarte mußte mich weiterbringen. Der Sicherheit wegen, erhielt ich einen Vorreiter. Wir kamen auf einen schmalen Weg, der längst einem hohen Grabenufer führte. Da begegnete uns an einer ganz besonders ungünstigen Stelle ein ähnliches Gefährt, ein Arba (eine (meistens flache) Pferdekutsche mit riesigen Rädern – E.K.), auf der zwei Sarten in guter Eintracht enge beieinander sassen. Mein Vorreiter meldete ihnen, ein „Uruß“ (Russe) komme, und fordert sie auf den Weg frei zu geben. Die beiden Brüder begriffen scheinbar etwas schwer. Ehe sie sich`s versahen, war der Reiter vom Pferd, setzte seine starke Schulter unter die weitvorstehende Radnabe der Arba und kippte sie wie ein Spielzeug um, so daß die Insassen nur noch Zeit hatten, etwas mit ihren Beinen, die für Augenblicke ihre Häupter überragten, in der Luft zu gestikulieren. Das war der einzige Protest, den sie ob ihres Unfalls, oder Umfalls hervorzubringen wagten. Dann lagen sie im weichen Lehm im Graben. Der Reiter bestieg wieder seinen Gaul, ohne ein Wort für die Verunglückten zu haben, und kommandierte meinem Fuhrmann: „Aida!“
Die Verunglückten krabbelten sich aus dem Graben, halfen ihrem Gaul wieder auf die Beine, und setzten ihren Weg fort. Einen Segenswunsch werden sie den Verursachern ihres Unglückes wohl kaum nachgesandt haben.
„Orientalisch,“ dachte ich.
„Nein“, antwortete mir später ein Europäer, „so lernen die Asiaten es von den Europäern. Das nennt man dann Kolonialpolitik.“
„Ak – Metschetj!“ ruft mir mein Fuhrmann zu und zeigt mit seinem kurzen Peitschenstiel in die Ferne.
Also das ist Ak – Metschetj, die einzige mennonitische Ansiedlung in Chiwa. Sie unterscheidet sich von ferne aus gesehen durch nichts von den andern Ortschaften des Ländchens.
Wir fahren durch das Stadttor auf einen großen Hof. Hier sieht es schon ganz anders aus, wie sonstwo in Chiwa. Wohl erinnert manches an den Orient, die Leute haben sich anpassen und eins und das andere annehmen müssen, doch vieles trägt noch ausgeprägt mennonitische Züge. Mehrere Kinder laufen über den Hof. Sie tragen alt-mennonitische Kleidung und sind in den bekannten mennonitischen Holzpantoffeln. Aus den mit grünen Laden versehenen Fenstern der Wohnungen blicken neugierige Frauengesichter. Mehrere Männer kommen aus den Wohnungen und begrüßen mich herzlich. Alles fremde Gesichter, und doch nicht fremd. Es ist da etwas auf beiden Seiten, das verwandt klingt und ineinanderfällt, das sofort verbindet: Stammesverwandt!
Geistesverwandt!
Ak – Metschetj ist das einzige mennonitische Oertchen in Chiwa. Ein großer Hof in Quadratform wird von einer hohen gelben Lehmmauer umgeben. Von Norden u. Süden führen Tore in den Hof. An der Mauer befinden sich die Ställe für das Vieh, einer am andern. Dann kommt ein Fahrweg, dann die Wohnungen der Leute: Kleine, niedrige Häuschen, mit flachem Dach, eins am andern. Eine Tür und zwei Fenster führen aus jeder Wohnung auf den Hof. Die Fenster sind mit grünen Laden versehen. Hinter den Fenstern blühen Primele, Amarilis und Geranien.

(Fortsetzung folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 6 vom 8. April 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 8. April 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Fortsetzung.)
Der Hof ist in bester Ordnung. In der Mitte des Hofes befindet sich ein größerer Bau, ebenfalls im orientalischen Stil gehalten. Darin ist das Versammlungslokal für Gottesdienste und die Lehrerwohnung. In einem kleinern Hause, ebenfalls in der Mitte des Hofes, befindet sich das Schullokal. Eine prächtige Pappelgruppe umgibt das kleine Schulhaus. Die Lehrerwohnung wird von mächtigen Weinreben umrankt. Vereinzelt auf dem Hofe stehen Aprikosen- und Maulbeerbäume, Pappeln, Schwarzrüster (Ulmengewächse – E.K.) und andere Bäume.
Die Wohnungen der Leute sind nach Alt-Mennonitischer Art eingerichtet. Alles ist rein und sauber.
Die Frauen und Kinder tragen ohne Ausnahme Kleider, die nach alt-mennonitischem Schnitt gemacht sind. Die Männer sind gewöhnlich in Joppen (Hausjacke für Männer – E.K.) mit geschlossenem Kragen. Fast jede Familie hat eine gut ausgestattete Werkstatt. Handwerk hat goldenen Boden. Doch haben sich viele in den letzten Jahren mehr auf die Landwirtschaft geworfen, da das Handwerk weniger einträglich wurde. Die Frauen arbeiten für die Harems der reichen Chivesen. Sie vertigen allerlei Strick- und Häkelarbeiten und machen Näharbeit.
Um das Dorf ist ein Berieselungsfeld, wo jede Familie ein Stücklein Land besitzt. Es wird gezogen: Weizen, Reis, Erbsen, Baumwolle, Klee und Gemüse.
Recht lohnend ist die Milchwirtschaft, obschon nur im kleinen betrieben. Jede Familie hat etliche Kühe und ein Pferd.
Ungefähr 25 Familien wohnen auf dem gemeinsamen Hofe. Etliche Familien besitzen ihren eigenen Hof und haben etwas mehr Land. Diese beschäftigen sich nur mit Ackerbau. Vor der Revolution fanden die Mennoniten immer belohnende Arbeit am Hofe des Fürsten, als Handwerker. Das ist nun weggefallen. So haben sie sich mehr auf die Milchwirtschaft geworfen. Etwaige Produkte finden in der Hauptstadt immer guten Absatz.
Das Gemeindewesen in Ak-Metschetj ist ein verhältnismäßig ideelles zu nennen, schlicht und recht. Das brüderliche Leben wird vom religiösen ganz beherrscht. Das Geistliche durchdringt überall das Materielle. Eine Gemeindeversammlung in bürgerlichen Angelegenheiten wurde immer mit Gebet eröffnet und geschlossen. Und ein Besucher von auswärts spürt es, daß das nicht Mache (Umgangssprache – nicht echt – E.K.) ist. Einer versucht des andern Last zu tragen.
Ein Beispiel: Ein Bruder hat Schulden gemacht. Sein Gläubiger ist ein Sarte. Als die Gemeinde dieses erfährt, wird sofort eine Versammlung einberufen, und der Betreffende muß sich stellen. In brüderlicher Liebe wird die Angelegenheit verhandelt. Erstens darf der Bruder nicht in den Händen des Wucherers bleiben, zweitens kann die Gemeinde es nicht dulden, daß solch ein Fleck auf ihr lastet. Der Schuldner muß nun genau angeben, was für Verpflichtungen er übernommen hat. Dann bringt die Gemeinde die erforderliche Summe auf; der Sarte wird gerufen, er erhält sein Geld und muß den Bruder als schuldfrei erklären. Der Bruder bleibt das Geld der Gemeinde, resp. den Brüdern, die es vorgestreckt haben, schuldig.
Etwaige Ausgaben, die die Gemeinde hat, werden von den Gemeindegliedern als freiwille Steuern erhoben, wobeo ein jeder nach Möglichkeit gibt.
Das religiöse Leben äußert sich weniger in Worten, mehr in der Tat.
Ein gebildeter Asiate, der vorgab, die Christen gut zu kennen, äußerte sich einst: „Ich habe so lange nicht geglaubt, daß es Christen gibt, die es mit der Nachfolge Christi wirklich ernst nehmen, bis ich die Mennoniten in Ak-Metschetj kennen lernte.“
Der Besuch der religiösen Versammlungen ist rege und pünktlich. Der Vater hat seine Söhne um sich, die Mütter ihre Töchter. Jeder kennt seinen Sitz, welcher nicht leer bleiben darf. Die Verhältnisse in den Familien und der Familien zu einander, sind im Großen Ganzen gut.
Es gibt dort noch einen ganz kleinen Rest von der Richtung Claas Epp. Eine ganz verschrobene Art von Chiliasmus. Diese Gruppe hält sich sehr getrennt von den andern und hält ihre Versammlungen.
Doch hier auf komme noch später.
Der Schule wird großes Interesse entgegengebracht. Die Unterichtssprache ist deutsch. Russisch wird nur als Gegenstand unterrichtet. Die sartische Sprache erlernt man in Umgang mit der Landesbevölkerung. Der Religionsunterricht nimmt den ersten Platz unter den Unterrichtsführern ein. Sämtliche Lehrbücher kommen aus Deutschland.
Neben den mennonitischen religiösen Blättern aus Rußland und etlichen ähnlichen Blättern aus dem Auslande, wurde die deutsche Zeitung „Der Reichsbote“ aus Berlin gelesen. Mehrere der älteren Leute des Oertchens, intelligente, gut belesene u. viel gereiste Personen, unterhielten regen Verkehr mit dem Auslande, besonders mit Deutschland. Durch die Revolution haben hierin Verschiebungen stattgefunden. Die Marienburg und andere Bilder aus Preußen sieht man an den Wänden in mehreren Häusern.
Ein Beamter des gegenwärtig neuen Rußland äußerte sich über Ak-Metschetj: Ein lebendes Museum aus der deutschen Biedermeierzeit. Sitten, Gebräuche, Ansichten, Trachten, - alles noch wie anno Dazumal. Man könnte glauben, ein Riesenluftschiff hätte vor vielen, vielen Jahren ein Stücklein Norddeutschlands, wie es damals lebte und webte, heraus- und emporgehoben u.n. (und  nach – E.K.) Mittelasien getragen, wo es bis heute n. alter Art weitergelebt hat. Einem Deutschen, der jene Zeit studieren möchte, würde für diesen Zweck eine Reise nach Ak-Metschetj zu empfehlen sein. Da würde er besseres Material für seine Studien vorfinden wie irgend wo in Deutsch Zeit haben sie überhaupt gelassen. An den Wänden in ihren Wohnungen hängen noch in alter Eintracht die Bildnisse von Zar Nikolaus und Kaiser Wilhelm. Das bedenket aber nicht einen Protest gegenüber dem Sozialismus, sondern es ist Rückständigkeit. Wie man ein Museum für Völkerkunde nicht zerstören darf, so darf man auch Ak-Metschetj nicht zerstören, wenn - (und hier kommt bolschewistische Schlußfolgerung) - wenn so ein „altes Nest“ nicht zum Nachteil für die Umgebung wäre.
Bei der Landesbevälkerung stehen die Mennoniten in gutem Ruf. Wo man im Ländchen hin und her über Ak-Metschetj zu sprechen kommt, da hört man es rühmen. Die Mennoniten bemühen sich, mit den Einheimischen in gutem Einvernehmen zu leben, doch nie so, daß sie ihren chrichtlichen Prinzipien irgendwie Abbruch tun.  In mehr denn 40 Jahren, die sie dort wohnen, haben sie keinen Gerichtsprozeß geführt. Als einst ein Sarte einen Mennoniten vor dem Oberkasi (Richter) zitierte, legte sich sofort der Fürst ins Mittel zu Gunsten des Mennoniten. Der Fall war folgender: Ein Mennonit fährt auf seinem vierrädrigen Wagen durch die engen Straßen der Hauptstadt. Da kommt ihm ein stattlicher Hofbeamter auf einem schönen tekkiner Hengst entgegen. Das Tier hat wohl noch nie solch ein Gefährt gesehen und scheut. Dabei bricht es ein Bein. Der Besitzer des Pferdes klagt. Der Mennonit ist in Verlegenheit. Da tritt der Fürst dazwischen. Sein Urteilsspruch lautet: Das Pferd kostet vielleicht 150 Rbl. Jede Seite hat die Hälfte zu tragen. Ich zahle für den Mennoniten 75 Rbl. – Punkt!
Die Beziehungen der Mennoniten zum Hofe waren die besten. Die Gemeinde hatte am Hofe ihren Vertreter, welche Person das volle Vetrauen des Fürsten hatte. Sein Einfluß auf den Fürsten war nicht gering. Oft begleitete er den Fürsten auf seinen Reisen nach Petersburg.
Alle Arbeiten, die die Mennoniten für den Hof taten, wurden gut belohnt. Kam der Fürst von einer Reise aus Petersburg nach Hause, so brachte er für jeden Mennoniten, der für ihn arbeitete, ein Geschenk mit: Ringe, Uhren, Stoffe usw., wurden dann reichlich ausgeteilt. Während meines Aufenthalts in Ak-Metschetj kam eines Tages ein Diener bei Hofe in die Kolonie und brachte eine größere Ladung von allerlei kostbarem Zuckerwerk als Geschenk vom Chan. Ein jeder, ob groß oder klein, erhielt seine Teil.

(Forts. folgt)

In der vierten Fortsetzung „Aus Mittelasien“ (No. 12 des Blattes) sind folgende Druckfehler zu berichten: 1. Spalte, oben: Weisheit statt Weißheit. Etwas weiter unten: zum Gericht – statt im Gericht. In Spalte 2, unten: Geflüster – statt Gefüster. In Spalte 3, in der Mitte: aus Binsen – statt aus Linsen.
(Euer Editor versucht mit aller „Weisheit“ „zum“ „Geflüster“, d. keine Druckfehler vorkommen, zu gelangen, und siehe da, wieder vier „Linsen“ anstatt „Binsen“. Ed.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 7 vom 15. April 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 15. April 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

Als des Fürsten neuer Palast fertig war, an dem die Mennoniten einen großen Teil der Arbeit getan hatten, lud der Fürst die Mennoniten zu einem großen Festessen in seinem Schloßgarten ein. Mußte ein Mennonit in rgend einem Hause des Fürsten etwas ausführen, so wies ihm ein Beamter die Arbeit an und ließ ihn dann allein. Der Gedanke, ein Mennonit könne etwas aus dem Schlosse entwenden, kam nicht auf.
Eines Abends besuchte ich den Prediger der Gemeinde. Da lagen auf dem Tisch in seiner „großen Stube“ verschiedene sehr kostbare Gegenstände: eine alte Damaszenerklinge mit goldenem Griff in goldener Scheide, verziert mit vielen Türkisen, eine kostbare Persianermütze mit einem großen Brillianten geschmückt, und anderes. Der menn. Prediger, ein tüchtiger Tischler, sollte für diese Gegenstände Kästchen und Futerale (Futterale – Hülle, Etui, Behälter – E.K.) machen. Der Fürst wollte dämnächst nach Petersburg reisen, wo er die kostbaren Sachen verschenken wollte. Das sind alles Beweise, wie großes Vertrauen den Mennoniten überall entgegengebracht wurde.
Wie sind die Mennoniten nach Chiva gekommen?
Die Antwort auf diese Frage ist eine lange Geschichte. Sie ist uns von F.Bartsch in einer Broschüre, betitelt: „Unser Auszug nach Mittelasien,“ in interessanter Form gegeben, doch kann ich nicht ganz umhin hier etwas darüber zu bringen.
Als im Jahre 1877 in Rußland die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, ergriffen viele Mennoniten den Wanderstab und zogen aus, nach Amerika. Eine kleine Gruppe, meistens aus Mennoniten aus den Dörfern in Alt-Samara und dem Trakt, Samar. Gouvernement, bestehend, sah in der Auswanderung nach dem Westen, nach Amerika, einen großen Fehler. Als Begründung wurde das Wort Gottes angeführt, z.B. Offbg. 12 und andere. Die Brautgemeinde des Herrn werde ihren Bergungsort zur Zeit der großen Trübsal im Gebirge in Mittelasien, im Lande des Sonnenaufgangs finden. Chiliastische Ideen lagen der Richtung zugrunde. Dazu kamen noch starke Werbungen von Seiten der russischen Regierung besonders der Verwaltung von Mittelasien, die um gute Siedler für die neueroberten Gebiete besorgt war. In Mittelasien durften sie, so hieß es, weiter ungehindert ihres Glaubens leben. Klaas Epp vom Trakt, einer der reichsten Bauern, wurde der hervorragendste Führer der Bewegung. Durch ganz eigenartige Auslegung der heiligen Schrift verstand er es, die auswanderungslustigen Leute für seine Ideen zu begeistern und manche schlossen sich um ihn als ihren Führer zusammen und wanderten nach Mittelasien aus. Wie schon erwähnt, war Mittelasien noch nicht lange in russischen Händen, und die Bevölkerung stand allem Europäischen höchst feindlich entgegen. Außerdem gab es dorthin keine Wege, außer beschwerliche Karawanenwege. Dasselbe galt auch mit Bezug auf das ganze Gebiet. So kam es, daß die Auswanderer arm und müder wurden. Der Führer aber schien den Mut nicht zu verlieren. Er fand immer wieder Stellen im Worte Gottes, die er aus dem Ganzen herausriß und womit er seine Ideen stützte. So verstand er es, seine Leute auch immer wieder anzuspornen, und sie zogen weiter und weiter, ungeachtet der großen Reisebeschwerden, ohne zu wissen, wohin eigentlich. Schließlich strandeten ein Häuflein in Chiva, in Ak – Metschetj. Der größere teil, müde und enttäuscht von Epps Führerschaft, zog ostwärts, bis daß er kam in die Gegend von Werney, an der chinesischen Grenze, wo dann die Kolonie
Aulie – Ata entstand. Aber auch der in Chiva gestrandete Teil spaltete sich bald. Epp blieben schließlich nur ganz wenige treu.
Als ich Ak – Metschetj besuchte, bestand Epps Gemeinde noch aus drei Familien und etlichen einzeln stehenden Personen. Ganz einsam stand ein Mann, namens Drake, der sich einst in der Rolle Johannes des Täufers gefallen hatte. Die andern alle waren längst, nach und nach, von Epp abgefallen und bildeten ein gewöhnliches Mennonitengemeindlein, das ernst bestrebt war, dem Herrn zu dienen.
Glaubte Klaas Epp tatsächlich an seine Mission, wie er sie vertrat, oder war er ein absichtlicher Schwindler, darüber ist oft verhandelt worden. Jedenfalls war er ein blinder Blindenleiter, der sich so selbst betrog und andere damit umgarnt hatte. Bald nannte er sich den Melchisedek oder den Elio des Neuen Bundes, bald war er einer der zwei Zeugen zu Jerusalem, dann wieder hieß er der zweite Sohn Gottes. Als er die Taufen „im Namen der beiden Söhne“ zu vollziehen anfing, und als diese Frechheit seinen Getreuen doch zu weit ging, taufte er „im Namen des Sohnes, Sohnes...!“ So ging die Nummer wieder durch. Oft versuchte er seine Gemeinde zu vergewissern, daß er nicht sterben, sondern gen Himmel fahren werde. Er hat es auch an Versuchen vor ihrer aller Augen gen Himmel zu fahren, nicht fehlen lassen, er blieb aber immer wieder in Chiva. Die Schuld der Mißerfolge schob er seiner Gemeinde zu, die nicht stark genug im Glauben sei. In diesem Wahn blieb Epp bis zu seinem Tode, der um Neujahr 1912-13 erfolgte.
Alle Versuche von Seiten Bibel fester Christen mit Epp zu sprechen, scheiterten. Er stellte sich dann nie, sondern hüllte sich in tiefes Schweigen. Das war seine Stärke vor der Gemeinde. Dazu kam ihm eine seltene Beeinflußungsgabe zu Hilfe.
Doch alle Menschen müssen sterben. Auch Klaas Epp starb. Sein Vermächtnis, daß er den Seinen hinterließ, war: Klaas Epp stirbt nicht. Er entschläft nur und wird wiederkommen. Bis heute ist er noch nicht wiedergekommen, wo er schon vor zehn Jahren starb. Sein kleiner Anhang aber wartet noch auf das Erscheinen seines Führers.
Wenige Tage nach dem Tode von Klaas Epp starb seine Frau, genannt die „Mutter der Lebendigen.“
So war das Häuflein verwaist. Doch Epps Geist hält die Wenigen noch weiter im Bann.
Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, ob über den „betrogenen Betrüger“ oder über die Betrogenen.
Gott der Herr aber wird einst richten.
Die Mennoniten sind ein eigenartiges Völklein unter den Völkern.Was versteht man im gewöhlichen Sinne unter dem Worte „Volk“? Gewöhnlich doch eine Gruppe von Menschen die durch Sitten, Gebräuchen, Anschauungen, Charakter, Sprache, verbunden sind. Wie entstehen Völker? Durch Abstammung, Vermischung, Klima, Bodenbeschaffenheit, Lage, geschichtliche Erlebnisse, usw. Jemand hat gesagt: Naturgesetze bilden Völker. Und die Gesetze des Geistes?
Was die Mennoniten sind, das sind sie zum großen Teil auch durch ihr eigenartiges religiöses Leben geworden. Das Wort „Mennonit“ bedeutet heute mehr, als nur Konfession oder religiöse Gemeindezugehötigkeit. Es hat im Laufe der Jahrhunderte, sozusagen, nationalen Charakter angenommen. Und die Mennoniten sind ein besonderes Völklein geworden, wie es andrere Völker sind mit ihren Tugenden und Schwächen, mit ihren von Gott bestimmten Aufgaben.
Die Familie der Mennoniten hat verschiedene Glieder mit allerlei besondern Eigenarten in Nebensachen. Nur zu oft kommt es vor, diesen Nebendingen zu viel Bedeutung beigelegt wird, wodurch viel gesündigt worden ist: vom lieblosen Richten bis zum harten Angriff. Doch: Soll das Leben auferstehen, muß die Form in Stükfe gehen.
Aber, es gibt in allen Lagern der verschiedensten Schattierungen auch immer solche, die die „Einheit der Kinder Gottes in Christo“ den oft so scharf trennenden Nebendingen überstellen.
Und es gibt ein Band, so fühlen es doch alle, das die verschiedenen Richtungen umschlingt und verbindet: nach außen hin, das dreisilbige Wort „Mennonit“, nach innen hin, die „Zusammengehörigkeit als Kinder Gottes in Christus Jesus“.
Wenn aber einst der Herr die Seinen sammeln wird vom Morgen und Abend, vom Mittag und von Mitternacht, dann werden auch die von Ak-Metschetj in Chiva mit denen aus Süd-Rußland und aus Nord-Amerika vor Ihm hintreten nit Freuden und ihre Garben bringen von der Saat, die sie oft mit Tränen, aber in Treu`und Glauben ausgestreut haben.
Dann wird erfüllt werden das Wort unseres Heilands, das wir oft so gerne anführen, aber trotzdem nicht voll bewerten: „Eine Herde – ein Hirte!“ Und die Bezeichnung „Mennonit“, wie wir sie uns heute oft mit Vermessenheit beilegen, wird nicht mehr gelten. „Dein Reich komme, O Herr, komme!“

(Fort. folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 8 vom 22. April 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 22. April 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Fortsetzung.)

Der erste Eindruck, den ein Reisender erhält, wenn er sich der Stadt nähert, ist: Ein riesiger, gelblichgrauer Lehmhaufen, aus dem etliche plumpe Türme, die Minarets der Moscheen, ungewöhlich auffallend hervorwagen. Vielleicht darf der Vergleich gelten: Ein Termitennest im großen Stil.
Der Reisende kommt näher. Der Lehmhaufen hat etwas bestimmtere Formen angenommen. Er ward zur Stadt, in der viele Menschen wohnen.
Eine breite, hohe Lehmmauer, mit zerfallenen Türmchen und Schießscharten umgibt die Stadt. Neben der Mauer zieht sich ein großer Graben, in dem in früheren Zeiten Wasser war. Große verschließbare Tore führen in die Stadt hinein. Diese Tore werden mit Sonnenaufgang geöffnet und mit Sonnenuntergang geschlossen. Der sich verspätende Wanderer muß außerhalb der Stadt nächtigen. An jedem Stadttore befindet sich ein großes Wasserloch, um das sich die Reisenden dann lagern. N.B. Nur selten findet man in Chiva Brunnen mit trinkbarem Wasser. Statt der Brunnen gräbt man je nach Bedarf kleinere oder größere Löcher in der Erde, in die man das Flußwasser aus den Bewässerungsgräben leitet. Wird im Herbst der Hauptkanal geschlossen, so wird Sorge getragen, die Löcher mit einem Wasservorrat zu versehen, der bis zur Wiedereröffnung der Kanäle im Frühling ausreicht. Auf diese Weise erhält man das nötige Trinkwasser.
Am Stadttor faulenzt die Wache und wartet auf etwas Abwechselung. Wir kommen geritten. Es gibt in Chiva nicht viele Menschen in europäischer, womoglich noch in moderner Kleidung. Als man den Fremdling gewahrt, in grüner, kleidsamer Joppe (Jacke – E.K.), einen heitern tyroler Lodenhut auf dem haupte, war die Abwechslung da und mit ihr die Unterhaltung.
„Jakschi Adam“ (Ein schöner Mensch!)
Wir reiten durch das Tor und kommen durch enge Straßen, die sich ab und zu in Marktplätze erweitern. Wie in einem Irrgarten winden sich die Straßen durch die Lehmhausen, die Wohnungen der Städter. Nur selten führt ein Fenster aus den Wohnungen aus die Straße. Die Tore sind immer verschlossen, wenn nicht gerade eine Arba oder ein Reiter in den Hof will. Die lüsterne Straße darf auch hier nicht die Wohnung des Bürgers durch ihre unkeuschen Blicke entweihen. Ueber die Mauer dringen auf die Straße allerlei scharfe Düfte, die wenig mit Lavendel oder Saronrose zu tun haben, die aber deutlich verraten, daß jenseits der Mauer noch Menschen leben, die starke Nerven haben, ohne Riechfläschchen und Lebenselexiere anzuwenden.
Aud den Straßen und Märkten ist buntes Treiben. Selten erblickt man unter der Menge Frauen. Wagt eine Frau sich auf die Straße, so verhüllt sie mit einem grünen Schleier ihr Angesicht. Kein Fremder darf ihr Gesicht sehen. So verbietet es das Gesetz des Propheten. Europäern gegenüber aber handeln die Schönen in unbewachten Augenblicken oft entgegen diesem Gesetz. Dann lüsten sie gerne den Schleier etwas u. lächeln den Fremdling an, als ob fragend:
„Schön? Wie Deine Chatuna (Frau) daheim, nicht wahr?“
Der Fremdling nicht freundlich, und die Sulaika trippelt begfiedigt davon.
Aus der Masse der schmutziggelben Lehmhäuser mit ihren schmutzgelben Hofmauern erheben sich etliche größere und bessere Bauten, alle aber wieder umgeben von Mauern. Als hervorragendsten Bau muß die Residenz des Fürsten angegeben werden. (Außer dieser Hauptwohnung hatte der Fürst mehrere Sommerwohnungen in verschiedenen Teilen der Stadt.) Eine besondere Art von Bauten, sind d. Moscheen mit den Medressen (Koranschulen, theolog. Schulen). Hohe, plumpe, nach oben etwas zulaufende Minaretts bezeichnen die Stellen der Moscheen. Die Minaretts und die Moscheen sind aus Backstein hergestellt, die Portale in die Moscheen mit Glasurtäfelchen, meistens, blau und weiß, ausgelegt. Koransprüche in arabischer Sprache laden den Moslem zur Andacht ein.
Auf einem Markt. Die Märkte sind nicht nur für Handel und Gewerbe da, sondern sie dienen den Bewohnern auch als Versammlungsplätze. Auf dem Markte macht der Orientale seine Einkäufe oder verkauft seine Erzeugnisse, vom Markt holt er sich die letzten Nachrichten und Neuigkeiten aus Welt und Zeit, auf dem Markt wird ihm der Stadtklatsch brühwarm aufgetragen. Der Markt ersetzt ihm den Park, das Theater, den Klub, die Vortragshalle und die Zeitung. In den Teebuden, die nirgends fehlen dürfen, trifft er seine Freunde und plaudert mit ihnen über einer Tasse Tee. Dicke Rauchwolken aus der gemeinsamen Wasserpfeife erfüllen den Raum. Will er das Misere des Lebens einmal ganz vergessen, so wird ihm dazu Gelegenheit in einer Opiumstube, die geheim existieren, geboten, und er lebt in Märchen aus tausend und einer Nacht. Der Markt ist ihm alles in allem.

Einige Bilder vom Markt.
Ein Kaufmann ich (ist? – E.K.) aus Moskau zurückgekehrt und berichtet, daß die Menschen dort am Himmel fliegen wie die Tauben. Ai, Ai, kein gutes Zeichen das. Dann muß nach des Propheten Wort bald die Welt untergehen.

Mullah Ali Mahummet ist aus Mekka gekommen. Als Lohn dafür ward ihm das Recht zuteil, immer den weißen Turban tragen zu dürfen. Er teilt den Gläubigen und andern mit, daß in Ghazieh ein Ennutzi Derwisch das grüne Banner des Propheten gegen die Ungläubigen erhoben hat, da der Padischah in Konstantinopel von letzteren hart bedrängt wird. Die Augen de Höhrer glänzen: So muß es über die Hunde kommen! Die nachricht aber, daß Istambul (Konstantinopel) in Gefahr ist, nimmt tief hinunter.

Ojhh! Ojhh! Hört man aus einer Marktstraße herzzerreißend schreien. Dann folgt eine Reihe Wörter, die ebenso verzweifelt ausgestoßen werden. Einem Uneingeweihten könnte das tiefste Mitleid beifallen. Doch die Einheimischen haben Unterhaltung. Die sucht man ja in irgend einer Form auf dem Markt. Ein Händler hat seine Kundschaft übervorteilt, er hat mit zu kurzem Maß gemessen. Das ist an den Tag gekommen. Nun muß er büßen. Fast ganz entkleidet wird er von Hütern der Ordnung und Gerechtigkeit durch die beliebtesten Straßen des Marktes getrieben. Um den Hals hängt eine Wage, als Zeichen, daß der Arme falsches Gewicht gegeben hat. In einem fort muß er laut bekennen: „Ich tue Buße, weil ich durch falsches Gewicht die Gläubigen betrogen habe....“
Ruft er nicht laut genug, dann saust eine schwere Geißel auf seinen kahlen Rücken nieder.
„Ojhh! Ojhh!“
Dort auf einem etwas freieren Platze erhebt sich ein einfacher Galgen. Kurze Stricke daran geben an, daß nicht lange Zeit zurück etliche erhängt worden sind. Nicht weit vom Galgen sitzt eine Anzahl Nichtstuer und warten auf den Henker, der für heute eine Hinrichtung angemeldet hat. Das Theater....
In einem weniger belebten Gäßchen am Hauptmarkt führt ein Mennonit einen Handel. Ruhig und solide verhandeln Käufer und Verkäufer. Der Einheimische weiß, hier bestehen feste Preise, und was er er kauft, ist gute Ware. Er nimmt seine Ware und geht weiter. Denn ein Gespräch anzuknüpfen, wie das sonst auf dem Markte üblich ist, wagt der Käufer sich nicht. Er kennt die Mennoniten. Die bemitleiden den bestraften, wnn auch schuldigen Händler, u. die gehen dem Galgen so weit wie möglich aus dem Wege.
Um etliche Erinnerungsgegenstände, die ich auf dem Markte gekauft habe, reicher geworden, setze ich meine Wanderung durch die Stadt fort.

(Schluß folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 9 vom 29. April 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 29. April 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Vortsetzung statt Schluß.)

Bei Hofe. Das Schloß des Fürsten (der Fürst ist gegenwärtig enttront) ist eine Festung in der Festung: Eine Burg, umgeben von einer hohen Mauer, längs welcher sich ein tiefer Wassergraben zieht. Nur ein Tor führt in das Inneere der Burg. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ist reges Treiben vor dem Tore. Allerlei Volk mit verschiedensten Anliegen wartet auf Einlaß, um den Fürsten zusehen; andere sind vor das höchste Gericht zitiert, welches der Fürst selbst führt, und wo er selbst das Urteil fällt. Den größten Teil des Publikums aber bilden neugierige Gaffer (Schaulustiger – E.K.).
 Geharnischte (privilegierte – E.K.) Jessauls (Soldaten) halten Wache. Von Zeit zu Zeit kommen die Höflinge mit ihren Dienern vorgeritten, äußerst selbstbewußt und würdevoll. Schneidig steigen sie von ihren stattlichen Tekkinerrossen, übergeben sie ihren Dienstbeflissenen Dienern und schreiten vornehm und stolz durch das Tor in den Hof. Niemand darf durch das Tor reiten. Dieses Recht steht nur dem Fürsten zu. (N.B. Haremsfrauen dürfen auf Arbas hineinfahren. Doch zählen diese zu einer besondern Kathegorie von Lebewesen.)
Wir begeben und in den Hof. Als Mennnoniten haben wir ungehindert Eintrittserlaubnis. Die Burg besteht aus verschiedenen Teilen: der Vorhof, umgeben mit allerlei Bauten und Hallen, wie sie ein orientalischer Fürstenhof erfordert, die Wohnung des Fürsten, der harem, der Innenhof, der Garten, das Schloß für offizielle Empfänge und Sitzungen usw. Wir dürfen alles besehen. Nur der Harem bleibt für uns verschlossen.
Auf unseren Gängen durch die Höfe u. Räume treffen wir bald hier, bald dort einen Mennoniten, der irgend eine Arbeit ausgeführt hat. Niemand beaufsichtigt den „Usta“ (Meister). Wie immer, so wird der sich seines Auftrags zur Zufriedenheit erlädigen, und er wird gewiß auch nichts von den umherliegenden Gegenständen entwenden.
Vor dem neuen Schlosse, unter freiem Himmel hällt der Fürst Gericht. Auf einer Erhöhung neben dem Portal sitzt der Gebieter auf weichen Teppichen in sonderbarer Pose, unbeweglich, steif wie ein Götze im  Tempel. Ein altes, breites Schwert liegt vor ihm. Das Zeichen seiner Gerichtsbarkeit. Etliche Stufen niedriger steht ein Richter, hypnotisiert, von des Fürsten Würde. Ganz unten, zu ebener Erde, sieht man zwischen zwei Wachen, bewaffnet mit Schwert u. Beil, den zitternden Angeklagten. Der Fürst spricht nicht direkt mit dem Armen. Der in der Mitte stehende Richter muß übertragen. Gerichtet wird nach Sitte und Brauch und nach den Gesetzen des Korans. Der Angeklagte bebt. Seine Sache scheint nicht günstig zu stehen. Ob seiner der Galgen wartet? Das wäre ein Glück für ihn. Wehe, wenn man ihn ins Gefängnis wirft. Dort muß er, von Würmern gefressen, langsam verhungern.
Im Vorhofe steht eine Gruppe von Männern, neugierig um ein Körbchen  gescharrt, das ein alter Sarte, vorsichtig hält. Sie warten auf das Erscheinen seiner Hoheit. Der Herrscher kommt würdevoll dahergeschritten. Ein Höfling wagt sich an ihn hinan und meldet untertänigst etwas. Der Mann mit dem Korbe muß nähertreten. Man hebt das Tuch vom Korbe, u. seine Hoheit hat das Vergnügen, drei nackte, neugeborene Knäblein zu sehen – Drillinge. Alle Umstehenden lächeln. Ein Fürst aber muß ernst bleiben. Seine Miene bleibt unverändert. Er setzt seinen Gang fort. Später schickt er dem Vater der Drillinge ein Geschenk. Auch verspricht er, für die Kinder ein Weiteres zu tun.
Wilder Trommelschlag vor dem Tore. Die Wache macht Parade. Das Publikum hat sich zu beiden Seiten enge zusammengedrängt. Im Tor erscheint auf stolzem Roß, der Fürst. Zwei Diener führen sein Roß. Vor dem Tore warten auf den Fürsten etliche Krieger mit gefüllten Säcken. Ein jeder, weiß, was die Säcke enthalten, doch ist die Aufregung und Gier der Menge deswegen nicht minder. Die Säcke werden entleert, und vor aller Augen liegt ein Haufen blutiger Menschenköpfe.
Die Geschichte dieses Szene? Die Jamuden u. Sarten führen einmal wieder Krieg miteinander. Die Jamuden haben Verluste gehabt, und die Sieger bringen dem Fürsten die Trophäen als Zeichen des Sieges. Wieder wildes Pfeifen und Trommeln, und der Gebieter zieht sich in seine Burg zurück.

Eine Sitzung des Reichsrates.
Auf weicher Ottomane im Großen Saale des neuen Schlosses ruht der Fürst im seidenen Mantel  und mächtiger Fellmütze. Auf schönen Teppichen im Halbkreis hocken vor ihm seine Höflinge. Unter ihnen sitzt ein Mennonit, der aber seine Art als Christ nicht verleugnet. Allerlei Fragen werden verhandelt, wesentliche und unwesentliche. Die Reichsräte haben nur eine Meinung, und zwar die des Fürsten. Der Fürst will nach Petersburg fahren. Seine Lage als Vasallfürst erfordert es, daß er ab und zu in die Hauptstadt des Weißen Zaren, seines Oberherrn, sich begibt, um dort Huldigungen darzubringen. Zählt er doch auch zur Suite des Zaren. Es werden Anordnungen für die Reise gegeben. Die Räte nicken zu allem und antworten gezogen im Chor: „Awo!“ (Ja wohl!) Es sind neue Films für das Kino des Fürsten aus Moskau angekommen. Die Bilder gefallen den stark sinnlichen Orientalen wohl. Doch auf Anraten des Mennoniten hat der Fürst etliche der schlüpfrigsten Films vernichten lassen. „Awo!“ wird wieder im Chor geantwortet.
Der Krieg mit den Jamuden wird verhandelt. Die kriegerischen und tapferen Nomadem verursachen den Sarten viel Unannehmlichkeietn. Die russischen Kosaken sind zur Hilfe gerufen worden. Fas kostet Geld. Der untertan soll es aufbringen. „Awo!“ Die Art und Weise, wie die Kosten aufgebracht werden, ist bekannt.
Im Garten spielt nit seinen Freunden das Söhnlein des Fürsten das seinem Vater einmal im Amt folgen soll. Der Fürst ist nicht von der schlimmsten Art. Im Vergleich zu seinen Vorgängern ist er sehr human. Seinem Söhnlein möchte er eine bessere, Erziehung geben, als er genossen hat. Er hält dem Prinzen einen europäisch geschulten Lehrer. Doch der Beobachter der Spiele bemerkt sofort, daß die Kinder nur einen Willen haben dürfen: den Willen des Prinzen. Ein kleiner Despot. Wie die Alten singen, so zwitschern die Jungen.
Ob der Prinz einmal Herrscher von Chiva werden wird? An asiatischen Höfen ist manches möglich...... Etwas später blies vom Westen her durch die Oase ein Orkan, genannt Bolschewismus, und Fürst und Prinz mußten weichen.

Im alten Schloß.
Die Lieblingsresidenz des vorletzten Herrschers Chivas. Etliche Diener führen uns durch die Räume und den Park. Ein Zimmer erregte besonders meine Aufmerksamkeit seiner Kuriosität halber. An allen vier Wänden waren Wandbretter angebracht, vom Fußboden bis zur Decke. Die Bretter waren mit tausenden von Glaskaraffen und Parfümfläschchen dicht besetzt. In der Mitte des Zimmers stand ein schönes Klawier der Firma Steinway als ob verlegen fragend: „Was habe ich eigentlich verbrochen, daß man mich hierher verbannt hat?“ Der Kastelan setzt sich im Bewußtsein seiner musikalischen Talente an das Instrument und schlägt etliche Tasten an. Das sollte Musik bedeuten. Er fragt mich, wie mir die Unterhaltung gefalle. Der Höflichkeit halber muß man falsche Zugeständnisse machen, zum Schaden seiner selbst und zum Schaden anderer. Da war das Instrument ehrlicher. Es lobte den Spieler nicht. Die im Raume wimmernden Töne riefen uns zu: „Höflichkeitslügen heißt sich und and`re betrügen.“ Doch die Welt will betrogen sein, sie werde betrogen.
Oft fragte ich mich bei solchen Hofbesuchen: „Ist`s Wirklichkeit od. Marionettenspiel?“ Doch es war Wirklichhkeit. Od. vielleicht Marionettenspiel inmitten nackter Wirklichkeit. Komödie u. Tragödie. Spielende u. Spielsachen.
Dort in einem alten Mausoleum in Samarkand dem einstigen Sitz asiatischer Macht und Größe, ruhen unter einem Riesennephrit von unschätzbarem Werk die zerstaubten Reste des Timerlenk (Tamerlan) dessen barbarische Horden einst bis in Polen vordrangen und Europa bedrohten. Das war ein großer Meister im Herrschar  spielen. Heute treiben eine Anzahl ihrer Nachfolger als erbärmliche Kopien ihrer würdigen Vorgänger das Spiel weiter, und es ist zum Erbarmen, wie sie mit ihren Spielsachen umgehen.

(Schluß folgt.)

 

Bericht "Die Mennoniten in Chiva (Mittel-Asien) und ihre Umgebung" von G. A. Peters in der "Mennonitische Rundschau" Teil 10 vom 6. Mai 1925

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 6. Mai 1925, Seite 13. (gotisch) von Elena Klassen.

 

(Schluß.)

Wie aber schon in einem vorhergehenden Abschnitt erwähnt: Es blies ein scharfer Wind durch Mittelasien, genannt Bolschewismus. Der warf die Zelte etlicher der Spieler um und fegte die Helden von den Brettern. Und Despotismus vom Osten wich dem Despotismus vom Westen. Dasselbe Leid im andern Kleid. Wieder Spiel inmitten trauriger Wirklichkeit.
In einer Medresse (theologischen Schule).
Hohe Bauten umschließen einen mit großen Steinfliesen gepflasterten Hof. In der Mitte des Hofes ist ein Brunnen. Die Bauten sind zwei- oder dreistöckig. In denselben befinden sich die Zellen der Studierenden. Zelle reiht sich an Zelle. Jede Zelle hat einen direkten Ausgang ins Freie. Gewöhnlich wohnen in einer Zelle zwei Studenten. Ein Leger, Wasserkrug, Teegeschirr und etliche andere Kleinigkeiten machen die Einrichtung einer Zelle aus. Die Lehrenden Mullah`s bewohnen etwas bessere Räume als die Studenten. Im Vorderbau befinden sich die größeren Lehrsäle. Um in ein Klassenzimmer zu gelangen, muß der Besucher über einen hohen Haufen von Pantoffeln steigen. Der Mohammedaner darf seine obere Fußbedeckung nicht in das Betlokal miz hinein nehmen. Er kann den Europäer nicht verstehen, daß er beim Betreten des Gotteshauses seine Schuhe, an denen doch so viel Schmutz haftet, an den  Füßen hält, während er das Haupt, den vornehmsten Teil des Körpers, entblößt. Vor der Gebetsnische sitzt der Lehrer, ein alter Mann im weissen Turban. Dreimal ist der Weise schon in Mekka gewesen und er genießt hohe Achtung vonseiten der Studenten. Vor ihm liegt der offene Koran. Um ihn sitzen die Schüler, vielleicht fünfzig an Zahl. Die Schüler lesen alle zugleich, doch jeder für sich, laut und monoton. Ein Gewirr von allerlei Stimmen erfüllt den Raum. Der Lehrer muß ein gutes Gehör und viel Uebung haben. Er horcht nach allen Seiten hin und hört bald hier, bald dort wo die Studenten Fehler machen. Sofort wird verbessert. Oft werden auch Erklärungen gegeben. Dann lauscht die ganze Klasse aufmerksam.
„Allah akbar! Allah aalim!“ – Allah ist groß und allwissend. Allah ist aber auch barmherzig. Er gebietet: Du sollst dem Fremdling in deinen Toren nichts entwenden, denn das ist ein Greuel vor Allah, damit dich ein Fremdling dermaleinst nicht verklage. Denn dafür wirst du dreifach Strafe erleiden. Außerhalb deiner Tore darfst du ihm sein Gut nehmen, denn das hat der Prophet nicht verboten.
Von solchen Lehren macht der Orientale stark Gebrauch. Allah ist ja groß und barmherzig. Was nicht direkt verboten ist, ist erlaubt.
Wir kennen eine Art, die noch weiter geht. Da wird Diebstahl und Raub direkt geboten und belohnt. Man hat dafür das Wort „Kommunismus“ erfunden. So hüllt die Sünde sich geschickt in allerlei Mäntel. Es mag Menschen geben, die den Kommunismus im idealsten Sinne vertreten. Diese ehrlichen Schwärmer lasse hier außer Acht.
Die vorgeschriebene Gebetsstunde naht. Monoton und klagend ruft der Muezzin die Gläubigen heran: „Ahahah“ – schallt sein Ruf über den Markt, durch die Straßen, doch ohne viel Erfolg. Nur wenige beachten den Ruf des Priesters. Allerlei Alltagsgeschäfte halten die Gläubigen zurück. „Allah ist ja groß und barmherzig. Er wird  nachsichtig sein.“ Doch etliche finden etwas Zeit zur Andacht. Ein Muderis leitet die Gebetsstunde. Mit nach Mekka gekehrtem Gesicht steht er vor der Gebetsnische. Hinter ihm im Halbkreis scharen sich die wenigen Getreuen. Nun erhebt der Vorbeter seine Hände, die Versammlung tut es ihm getreu nach, dann werden die Arme über die Magengegend gekreuzt, weiter wirft sich die ganze Schar auf die Kniee, schließlich bengen alle den Oberkörper nach vorne und berühren mit ihrer Stirne den Boden.
In rückgehender Reihenfolge richten sich Vorbeter u. Nachbeter wieder auf. Man wird an ein Freiturnen in Deutschland lebhaft erinnert.
Aus einem Nebenzimmer schallt wildes Geheul zu uns herüber. Dort halten Derwische (mohammedanische Mönche) ihre Andachtsstunden ab. Nach rhytmischen Tönen, die auf langen klarinett-ähnlichen Pfeifen hervorgebracht werden, bewegt sich die klownartiggekleidete Gruppe der Derwische hin und her, drehen sich wild, oder tanzen, dabei in allerlei Tonarten wild heulend. Etliche der Teilnehmer liegen entkräftet, von wilden Bewegungen am Boden.
Ich verspüre tiefes Weh in meinem Herzen: Auch das noch ein Gottesdienst? Ich versuche in solchen Fällen mir die Verslein jenes Dichters zu zitieren:
„In allen Zonen liegt die Menschheit auf den Knien,
Vor einem Unsichtbaren, das sie empor soll ziehen.
Verachte keinen Brauch und keine Flehgebärde,
Womit ein armes Kind sich aufschwingt von der Erde.
Ein Kind mit Lächeln fleht, ein anders mit Geschrei,
Daß von der Mutter Arm es aufgenommen sei!“
Nein, nicht verachten wollen wir den Menschen und seine Art des Gottsuchens, wenn sie auch ganz von dem, wie wir es verstehen, abweicht. Aber wir müßten uns mehr bemühen, denen, die „mit Geschrei um Aufnahme von der Mutter Arm flehen“, zu helfen, damit auch sie es lernen, „als lächelndes Kind“ zu bitten.
Doch flohen meine Gedanken aus jenem Raume der heulenden Derwische hinüber in weltliche Kulturländer, in denen das Christentum noch gelten soll, und ich sah Männer und Frauen sich wild gebärdend auf dem Fußboden wälzen, „erfüllt mit Geist“ (ich wage es nicht vor dem Worte „Geist“ das Wort „heilig“ zu setzen). Ich dachte an die ungesunde Pfingstbewegung. O, daß doch bald das Feuer, das Jesus Christus angezündet hat, in der ganzen Welt brennete! Licht und rein!
So leben und wirken zwei so ganz ungleiche Völker – die einheimischen Sarten und die dort fremden Mennoniten – nun schon bald fünfzig Jahre Seite an Seite, jedes Volk sein eigenes Leben führend, seine eigenen Wege gehend. Doch oft berühren sie sich im Leben, oft kreutzen sich ihre Wege. Und da haben die Fremdlinge, so gering an Zahl, es verstanden, den Einheimischen in einer Art zu begegnen, die ihnen Achtung und Wohlwollen eingebracht hat. Die Mennoniten haben versucht, das Wort Jesu: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tuet ihr ihnen!“ wenn auch nur unvollkommen ins Leben umzusetzen. Und das Wort wird doch von fundamentaler Bedeutung im Verkehr der Völker untereinander und auch im Verkehr der verschiedensten Gesellschaftsgruppen eines gegebenen Volkes bleiben. Die Beachtung des Wortes bedeutet Friede auf Erden.
Ob der kleinen Gemeinde in Ak-Metschetj in Chiva die isolierte Lage mit der Zeit nicht doch zu schwer werden wird? Ob das Häuflein schlichter, aber ernster Bekenner Jesu Christi inmitten einer christusfeindlichen Umgebung sich in Zukunft wird behaupten können?
Sie wollten einst im Osten, irgendwo in den gewaltigen Bergen dort, den „Bergungsort der Gemeinde des Herrn“ finden vor den Vervolgungen der Feinde des Reiches Gottes. Sie haben den gesuchten Ort aber nicht gefunden, sondern strandeten auf ihrem Wege in Chiva, wo sie aber bis daher voll und ganz haben ihres Glaubens leben dürfen. Doch blicken auch sie bange fragend in die Zukunft: „Herr, stärke uns den Glauben!“ Der einzige Bergungsort ist und bleibt der „Fels des Heils“ Jesus Christus.
Lieber Leser! Wenn Du dieses Büchlein durchgelesen hast und dann später einmal wieder Dein Dir lieb gewordenes, schönes Gotteshaus besuchst, das in einem reichen, wohlgeordneten Lande sich befindet, wenn Du im Gotteshause eine gediegene Predigt hörst; wenn dazu herrliche Gesänge geliefert werden, vielleicht noch begleitet von kunstvoller Musik; wenn Du dann in Deinem Innern so recht befriedigt bist, so vergiß nicht, daß Du dort am Strande des trüben Amu-Darja im armen Chiva in Mittelasien einen vor der Welt geringen Bruder hast, der in seinem „Kirchlein“ aus Lehm schlicht und recht mit Dir Gott lobt und dankt, mit Dir zu Gott betet, mit Dir himmelan seine schwere Bahn zieht.
Schließ diesen Bruder mit ein in Dein Gebet.

   
Zuletzt geändert am 10 Januar, 2017