Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung



Gemeindebericht 1848, das Molotschnaer Mennonitengebiet

 

Gemeindebericht 1848, Mennonitenkolonien.

41. Gnadenfeld

Um den furchtbaren Druck eines polnischen Edelmannes zu entgehen, zogen im Jahre 1765 eine Menge Mennonitenfamilien aus der Gegend von Schwez in Westpreussen, welches damals polnisch war, in eine moorige mit Weidengestraeuch bewachsene Gegend am rechten Netzeufer in der jetzigen Provinz Brandenburg und gruendeten, von Koenig Friedrich II. mit vortrefflichen Privilegien beschenkt unter der Anleitung des Koenigl. Geheimrats Franz von Brinkenhof die beiden nach ihm benannten Kolonien Franztal und Brinkenhofswalde und noch eine dritte, Neudessau genannt. Anfangs zwar auf diesem Sumpfboden mit unbeschreiblichen Muehsalen kaempfend, brachten es die Bewohner durch unermuedlichen Fleiss, den Gottes Segen kroente, doch endlich zu einigem Wohlstand und einem recht behaglichen laendlichen Leben. Sie wuerden ihre gewohnten und liebgewonnenen Verhaeltnisse wohl kaum verlassen haben, wenn nicht der Koenig Friedrich Wilhelm II. aus Staatsruecksichten sich genoetigt gesehen haette, so schwer es ihm auch nach seinen eigenen Worten wurde, das Privilegium teilweise aufzuheben und ihnen Schutzgeld und die Beschraenkung aufzuerlegen, dass sie keinen weiteren Grundbesitz erwerben koennten. Da richteten sich die Augen der Gemeinde nach dem suedlichen Russland, wo an den Ufern der Molotschna bereits Tausende ihrer Glaubensbrueder unter dem Szepter des Kaisers Aufnahme, Schutz und Wohltaten unzaehliger Art gefunden hatten, und die Auswanderung wurde beschlossen. In der Meinung, der Einwanderung stehe nichts entgegen, verkauften im Jahre 1833 die meisten ihre Grundstuecke und schickten sich zur Reise an. Nicht gering aber war der Schrecken, als der Kaiserliche russische Generalkonsul in Danzig auf die an ihn gerichtete Anfrage den Bescheid erteilte, die Einwanderung sei untersagt. Da wandten sich die geistlichen Vorsteher im Auftrage und Namen der Gemeinde an Se. Majestaet den Kaiser mit der Bitte, fuer 40 Familien die Erlaubnis zur Einwanderung Allergnaedigst erteilen zu wollen. Bald lag die Erlaubnis unter den gesetzlichen Bedingungen in ihren Haenden.
In zwei Kolonnen, die eine unter Anfuehrung des Kirchenaeltesten Wilhelm Lange, die andere von einem Kirchenlehrer gefuehrt, setzte sich der Zug in Bewegung. Auch auf der Reise ward so viel als moeglich nicht vergessen, dass eine christliche Gemeine reise. Taeglich wurde vor der Abfahrt ein kurzer Morgensegen und des Sonntags eine Andachtsstunde gehalten. Ohne besonderen Unfall kamen die Zuege im Anfang des Herbstes an der Molotschna an, und jede Familie suchte ein passendes Unterkommen fuer den Winter. Dieses kostete aber viel Geld, da die Nahrungsmittel des vorjaehrigen totalen Misswachses wegen ungeheuer hoch im Preise standen. Herbst und Winter wurden aufgewandt, eine Ansiedlungsstelle aufzufinden und festzustellen. Man entschloss sich endlich, hoch oben auf der Steppe, da wo die ersten Spuren der Vertiefung des Steppflusses Apanlee bemerkbar werden, wo sonst aber weder Gestraeuch noch Steinbrueche noch sonst irgendeine Bodenmerkwuerdigkeit vorhanden ist, eine Kolonie von 40 Wirten (1855: 40 Wirtschaften, 76 Anwohnerfamilien, insgesamt 310 Maenner, 271 Frauen; 1857: 40 Wirtschaften, 201 Maenner, auf 2660 Desj. und 26 landlose Familien, 81 Maenner.), 4 Handwerkern und 30 Anwohnerstellen zu gruenden.
Die Ansiedlung geschah im Jahre 1835, mit Ausnahme einiger Baustellen, die 1836, und dreier Baustellen, die erst im Jahre 1840 besiedelt wurden.
Die Kolonie bildet beinahe ein 2 Werst langes Rechteck, dessen Laengsseiten nach Sueden und Norden und dessen Enden nach Ost und West stehen. Von den zwei Haeuserreihen enthaelt jede 20 Stellen, welchen gegenueber sich dann je 40 Anwohnerstellen befinden.
Zwischen den Wirtschaften und Anwohnerstellen laeuft auf beiden Seiten eine breite, namentlich im Herbst sehr befahrene Strasse hin, da der Getreidetransport nach der 70 Werst entfernten Kreis- und Hafenstadt Berdjansk von vielen Kolonisten- und Mennonitendoerfern hier durchgefuehrt wird.
Die ziemlich grossen Gaerten der Wirte wuerden zwischen den beiden Reihen der Wirtschaftsstellen zusammenstossen, wenn sie nicht ein von beiden Seiten mit Waldbaeumen eingefasster, vier Faden breiter Rasenfusspfad, der "Kirchensteig" genannt, von einander trennte. Quer durch die Mitte der Kolonie geht die sogenannte Mittelgasse, an deren Seiten, gerade gegen und auf dem Kirchensteige oestlich die Schule steht und westlich die Kirche hinkommen soll. Sie waere bereits in vollem Bau begriffen, wenn uns nicht manche ganz unerwartete Hindernisse in den Weg gelegt worden waeren. Die Mittelgasse, die in gerader Linie noerdlich nach dem Kirchhofe fuehrt, teilt in Verbindung mit dem Kirchensteige die Kolonie in ganz gleiche Quartale. Hinter den Anwohnerstellen laeuft auf beiden Langseiten die Waldplantage hin, — und man darf wohl kuehn behaupten, dass in Bezug auf die Baumanlagen nur sehr wenige Kolonien sich mit Gandenfeld werden messen koennen. "Gandenfeld"! Dieser Name wurde der Siedlung von dem Gemeindevorsteher aus folgenden Gruenden gegeben. "Feld" nannte man die Kolonie, weil sie nicht in einem Tal, sondern hoch auf der Steppe, also auf dem Felde liegt. Gnadenfeld nannte man sie einmal, weil man durch diese Benennung ein Denkmal der Kaiserlichen Gnade stiften wollte, die trotz damals untersagter Einwanderung dennoch der Gemeinde die erbetene Erlaubnis so bereitwillig erteilte, und zum anderen, weil man von dem heissen Wunsche beseelt war, dieser neue Wohnort moechte in jeder Beziehung fuer die Gemeinde ein Ort werden, an dem sie die Offenbarung der goettlichen Gnade in reichem Mass erfaehrt. Die Behoerde genehmigte bereitwillig die Benennung.
Die Kolonie hat sich bis dahin des goettlichen Segens zu erfreuen gehabt, denn obgleich wir keine Unterstuetzung von der Krone empfingen und die Mittel mancher Einwanderer nur gering waren, indem Vieh, Hausgeraet, Wirtschaftssachen u.s.w. bei der Auswanderung fuer Spottpreise mussten dahingegeben werden, die Reise aber und namentlich der erste Winter, sowie dann auch die Ansiedlung selbst bedeutende Kosten verursachten, so muss man doch sagen, dass sie mit jedem Jahr lieblicher aufblueht und schoener und wohlhabender sich gestaltet. Wir haben von dem fruchtbaren und, wenn Gott den Segen nicht vorenthaelt, sehr ergiebigen Boden meistens gute und einige reichliche Ernten gehabt, weshalb sich auch im Ganzen der Wohlstand hebt und mehrt. Die Haeuser gewinnen ein immer freundlicheres Aussehen und die Wirtschaftsgebaeude werden vollstaendiger und zweckmaessiger eingerichtet. Viele Gaerten sind bereits trotz der jugendlichen Ansiedlung vollgepflanzt, und selbst mehrere Wirtschaftsanteile in der Waldplantage, welche vor 2 Jahren begonnen wurde, sind vollstaendig besetzt und mit Hecken umgeben.
Vor Seuchen, Feuersbruensten und anderen besonderen uebeln hat uns Gottes Gnade bis hierher bewahrt, und so hoffen wir denn auch fernerhin unter dem Schutz und Schirm unserer treuen Obrigkeit ein ruhiges und stilles Leben zu fuehren in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Gnadenfeld, den 30. April 1848.
Schulz Voth
Beisitzer: Jantzen, Goerz


Quelle: Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 228




Zuletzt geaendert am 1 Mai 2008